2003
Der rote Wollschal
Oktober 2003


Der rote Wollschal

In meiner Kindheit lernte ich, dass es keinen Gott gibt, aber ein Erdbeben und zwei Missionare halfen mir, ihn doch zu finden.

Ich bin in Armenien geboren, das damals noch zur Sowjetunion gehörte. Meine Eltern lehrten mich und meine beiden Geschwister, ehrlich, gut und sittlich rein zu sein, und sie taten alles, um uns eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Aber im Kindergarten erfuhr ich vor allem anderen, Religion sei Opium fürs Volk. Bis ich 12 Jahre alt war, wusste ich nicht, dass es einen Gott gibt.

Gesegnet sei dein Name, Gott

Als ich 12 war, zerstörte ein schreckliches Erdbeben 90 Prozent meiner Heimatstadt. Über 50 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Ich war in der Schule, als es immer lauter wurde und alles um uns herum zu zittern begann. Ich wurde mit der Menge mitgerissen, die versuchte, aus dem Gebäude zu fliehen. Inmitten der Verwirrung wurde mir plötzlich bewusst, dass ich meine Familie vielleicht nie wiedersehen würde. In diesem Moment sah ich den roten Wollschal, den meine Mutter mir gestrickt hatte, im Flur rechts neben dem Treppenhaus hängen. Einer Eingebung folgend löste ich mich aus der Menge und lief, um den Schal zu holen. Im selben Augenblick zitterte der Boden zum dritten und letzten Mal und ich sah, wie das Treppenhaus zusammenstürzte und all meine Kameraden in den Ruinen begrub. Als ich wieder klar denken konnte, stellte ich fest, dass die ganze Schule ein einziges Trümmerfeld war – ausgenommen der kleine Bereich, wo ich mit meinem roten Wollschal stand.

Meine Familie, die aus fünf Personen bestand, hatte überlebt. Als mein Vater meine Mutter, meine acht Monate alte Schwester, meinen siebenjährigen Bruder und mich mitten auf der Straße sitzen sah, nachdem er sieben Stunden lang nach uns gesucht hatte, sagte er nur: „Gesegnet sei dein Name, Gott.“ Ich hatte mein Zuhause verloren, aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich den Namen Gottes gehört.

Das Gefühl, nach Hause zu kommen

Elf Jahre vergingen. Ich hatte gerade mein Studium an der medizinischen Universität in Eriwan, der Hauptstadt von Armenien, abgeschlossen und war Ärztin im Praktikum an der Augenklinik. Während einer ehrenamtlichen Tätigkeit begegnete ich zwei Missionaren der Kirche und wir wurden gute Freunde. Sie wurden wie jeder andere bei uns zu Hause willkommen geheißen, aber sobald sie anfingen, von ihrem Gott zu reden, herrschte eine gespannte Atmosphäre. Meine Eltern erklärten mir, Missionare, die „ihre Religion lehrten“, seien bei uns zu Hause nicht willkommen. Ich selbst war nicht an ihrer Religion interessiert, aber ich hatte sie nicht aufgehalten, weil in ihren Augen etwas Besonderes war – etwas Unschuldiges, Reines, Wunderbares. Ich war sehr daran interessiert, die Quelle des Lichts zu finden, das ich in ihren Augen sah.

Nachdem meine Eltern ihre Missbilligung zum Ausdruck gebracht hatten, lud ich die Missionare nicht mehr ein, vereinbarte aber schließlich ein Treffen mit ihnen in ihrer Kirche, um ihnen zu sagen, dass ich zu beschäftigt war, um weiter mit ihnen zu sprechen. Ich kam eine Stunde zu früh und betrat einen Raum mit vielen Stühlen, in dem etwa 15 Personen saßen. Als ich mich still dazusetzte, um niemand zu stören, war ich überrascht von den ungewöhnlichen und doch so unglaublich vertrauten Gefühlen, die ich hatte. Ich fühlte mich, wie ich mich als Fünfjährige immer gefühlt hatte, wenn ich nach Hause rannte, meiner Mutter in die Arme fiel und ihr alles erzählte, was ich getan hatte – sicher, dass sie mich liebte und immer für mich da war und dass alles in Ordnung war. Nach den langen Jahren meiner geistigen Wanderschaft war ich zu Hause angelangt.

An dem Abend kniete ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nieder und betete zu Gott. Falls es einen himmlischen Vater gab, wollte ich, dass er mir antwortete, mir sagte, ob das, was die Missionare lehrten, wahr war, und mir zeigte, warum ich mich so anders fühlte. Es ist schwer zu beschreiben, was dann geschah. Nie zuvor hatte ich die Gegenwart meines himmlischen Vaters so deutlich gespürt. Ich wusste, dass er mich liebte. Er kannte mich. Er war immer da gewesen. In dieser Nacht schlief ich mit der sicheren Gewissheit im Herzen, dass ich den Weg nach Hause gefunden hatte.

Ich begann, das Evangelium sehr gründlich zu studieren. Nachdem ich mich vier Monate lang eingehend damit befasst hatte, wollte ich mich taufen lassen.

Mein Leben wurde auf den Kopf gestellt. Ich verlor meine Arbeit und durfte mein Praktikum nicht fortsetzen. Als sich meine Interessen und Werte zu ändern begannen, verschwanden nach und nach meine bisherigen Freunde. Am schwierigsten war es für mich jedoch, dass meine Eltern gegen meine Taufe waren.

Ich liebte meine Eltern sehr. Sie hatten alles gegeben, was sie hatten, um mir die beste Ausbildung zu ermöglichen und die beste Umgebung zu schaffen. Sie waren stolz auf das, was ich erreicht hatte. Aber als sie von meiner Entscheidung erfuhren, waren sie entsetzt. Es war das erste Mal, dass ich etwas tun wollte, womit sie nicht einverstanden waren, und es war für uns alle sehr schwer. Aber ich wusste, dass Gott wollte, dass ich mich taufen ließ. Selbst wenn meine Familie mich verleugnen wollte, konnte ich doch meinen himmlischen Vater nicht verleugnen.

Meine Familie nahm die Einladung zu meiner Taufe nicht an, also ging ich am Tag meiner Taufe allein in die Kirche. Viele Menschen waren bei der Taufe dabei, aber als „Familie“ betrachtete ich nur die beiden Missionare. Als ich dann auf das Taufbecken zuging, sah ich meine Mutter und meinen Bruder. Es war der glücklichste Tag meines Lebens. Die Anwesenheit meiner Familie war wie ein Sonnenstrahl, der mir Hoffnung auf eine bessere Zukunft brachte.

Andere am Licht des Evangeliums teilhaben lassen

Im darauf folgenden Jahr wurde ich reich gesegnet. Zusätzlich zu meinen Aufgaben in der Gemeinde und viel ehrenamtlicher Arbeit fand ich eine Stelle in einem privaten Krankenhaus und konnte meine Ausbildung fortsetzen. Meine Mutter kam nach meiner Taufe mehrmals zu den Versammlungen der Kirche und schloss sich fünf Monate später der Kirche an. Am wichtigsten war jedoch, dass die Liebe des himmlischen Vaters ein Teil meines Lebens geworden war und ich die Gewissheit hatte, dass ich endlich auf dem Weg nach Hause war.

Ich wollte das Licht weitergeben, das das Evangelium in mein Leben gebracht hatte, also reichte ich genau ein Jahr nach meiner Taufe meine Papiere für eine Vollzeitmission ein. In der Hoffnung, dass mein Vater sein Herz erweicht hatte, erzählte ich ihm von meiner Entscheidung. Er reagierte sehr verärgert. Die ganze Nacht saß ich still in meinem Zimmer und am nächsten Tag nach der Arbeit traute ich mich nicht nach Hause. Ich arbeitete immer noch, als mein Vater zu meiner Arbeitsstelle kam. Nach langem Schweigen fragte er schließlich: „Möchtest du wirklich all das zurücklassen – dein Zuhause, deine Freunde, deine Ausbildung, deine Arbeit –, nur um an einen fremden Ort zu gehen?“ Ich bejahte. Danach redeten wir nicht mehr miteinander bis zu dem Tag, an dem ich auf Mission ging. Das war zehn Tage nachdem ich meine Berufung erhalten hatte, auf dem Tempelplatz in Salt Lake City zu dienen.

Noch ein Buch Mormon

Als ich auf Mission ging, waren meine Mutter und meine Schwester bereits Mitglied der Kirche. Sechs Monate später schrieb meine Mutter in einem Brief: „Ich habe zu Hause noch ein Buch Mormon gefunden. Dein Vater hat gesagt, ich hätte wohl mein Buch versehentlich dorthin gelegt. Ich bin so aufgeregt. Da geht etwas vor sich.“ Später fanden wir heraus, dass mein Vater vier Monate, nachdem ich abgereist war, auf der Straße die Missionare getroffen und sie gefragt hatte, wie es auf Mission war, wo sie aßen und schliefen, wie sie unterstützt wurden und wie ihr Tagesablauf aussah. Er wollte wissen, warum mir diese Kirche mehr bedeutete als alles andere.

Acht Monate, nachdem ich fortgegangen war, erhielt ich den ersten Brief von meinem Vater. Er schrieb: „Ich habe mich am 2. Dezember 2000 taufen lassen. Nach und nach habe ich mehr über das Evangelium gelernt. Ich bin so stolz auf dich. Ich bin so stolz auf mein Mädchen, das nicht aufgegeben hat und uns auf diesen Weg gebracht hat.“ Als ich von Mission nach Hause kam, hatte sich meine ganze Familie zum Evangelium bekehrt und viele Verwandte und Freunde hatten sich ebenfalls der Kirche angeschlossen.

Im Licht leben

Aufgrund der Wahrheiten, die ich kennen gelernt habe, fühle ich mich verpflichtet, ein sinnvolles Leben zu führen. Ich weiß, dass Gott lebt und dass er jeden von uns kennt. Es spielt keine Rolle, wie gebildet wir sind oder woher wir stammen; wenn wir ihm nahe sind, können wir seine Liebe spüren. Ich weiß das nicht, weil ich es von meinen Eltern gelernt habe, nicht, weil jeder um mich herum daran glaubt, sondern weil ich es von ganzem Herzen spüre. Das Licht, das ich in den Augen der Missionare leuchten sah, ist dasselbe Licht, das ich spürte, als ich zum ersten Mal das Gemeindehaus besuchte und wusste, dass ich nach Hause gekommen war. Es ist das Licht, dass ich in den Augen meiner Familie sah, als sie sich – einer nach dem anderen – der Kirche anschlossen. Und es ist das Licht, das in den heiligen Schriften beschrieben wird: „Wenn euer Auge nur auf meine Herrlichkeit gerichtet ist, so wird euer ganzer Körper mit Licht erfüllt werden.“ (LuB 88:67.)

Hripsime Zatikyan Wright gehört zur Gemeinde Salt Lake University 3, Pfahl Salt Lake University 1.