1990–1999
Fünf Brote und zwei Fische
April 1994


Fünf Brote und zwei Fische

Ein Hauptgrund dafür, daß die Kirche … zu ihrer gegenwärtigen Stärke heranwachsen konnte, liegt in der Glaubenstreue und der Hingabe der Millionen…, die nicht mehr als fünf Brote und zwei kleine Fische in den Dienst des Herrn einbringen können.

Brüder, Schwestern und Freunde, ich stehe vor Ihnen in der Hoffnung, daß Sie mich mit Glauben und Beten unterstützen, während ich in den nächsten Minuten demütig darüber spreche, wie die Hand des Herrn, unseres Gottes, in unser Leben eingreift. Schwester Norma Ashton, Sie haben Ihren Mann, unseren lieben Amtsbruder, Eider Marvin J. Ashton vom Kollegium der Zwölf Apostel, verloren. Wir lieben Sie, und wir beten für Sie.

Vor einigen Monaten waren Elder Spencer J. Condie und ich am Flughafen von Salt Lake City, und dort trafen wir unverhofft ein engagiertes und glaubenstreues Ehepaar, mit dem wir seit langen Jahren befreundet sind. Dieses Ehepaar hat das Leben mit Dienen verbracht und war schlicht, glaubenstreu und wirksam bestrebt, die Kirche an vielen Orten der Welt aufzubauen. Eider Condie bemerkte: „Es ist erstaunlich, was jemand mit fünf Broten und zwei Fischen zum Aufbau des Reiches Gottes bewirken kann.” Durch diese Art von stillem, hingebungsvollem Dienen erfüllt sich, so meine ich, das Gotteswort:

„Damit den Enden der Welt und vor Königen und Herrschern die Fülle meines Evangeliums durch die schwachen und einfachen Menschen verkündigt werde.” (LuB 1:23.) Heute möchte ich über diejenigen sprechen, die dem Erretter nichts als fünf Brote und zwei Fische zur Speisung der Menschenmengen anbieten können.

„Als Jesus aufblickte und sah, daß so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wußte, was er tun wollte.” Philippus antwortete rasch, daß nicht genug Geld da sei, um für diese Menschenmenge Brot zu kaufen. Da sagte Andreas, der Bruder des Petrus: „Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische.” (Johannes 6:5,6,9.)

„Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen.

Und alle aßen und wurden satt.

Als die Jünger die Reste der Brote und der Fische einsammelten, wurden zwölf Körbe voll. Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegessen hatten.” (Markus 6:41-44.) Danach verstockten die Jünger ihr Herz und dachten nicht mehr an die göttliche Mission Jesu, „denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah” (Markus 6:52).

In unserer Zeit scheinen wir über all die Wunder, die vom Verstand und der Hand von Menschen gemacht sind, das Wunder der fünf Brote und zwei Fische vergessen zu haben. Ich spreche von den Wundern der modernen Verkehrsmittel und der zunehmenden Raffinesse aller wissenschaftlichen Erkenntnis einschließlich der neuen elektronischen Verbindungswege. Wir haben vergessen, daß den Menschen dieses Wissen nur in dem Maße zuteil wird, wie Gott es zu offenbaren wünscht, und es sollte edleren und weiseren Zwecken als nur der Unterhaltung dienen. Durch dieses Wissen ist es möglich, die Worte der Propheten Gottes über Satelliten zu schicken, die über der Erde schweben, so daß ein großer Teil der Menschheit ihre Botschaften hören kann.

Mit diesem großen Wissen geht eine gewisse Skepsis gegenüber den einfachen und grundlegenden Wahrheiten einher, die durch das Wunder der Brote und der Fische gelehrt wurden, nämlich daß Gott Himmel und Erde durch seine unendliche Intelligenz und Güte regiert.

Wir müssen auch wissen und uns vor Augen halten, daß wir ebenso wie der kleine Junge im Neuen Testament Geistkinder des himmlischen Vaters sind, daß Jesus der Messias, unser Erretter und der Erlöser der Welt ist. Wir glauben, daß in den Jahrhunderten nach der Errichtung seines Reiches auf Erden die Lehren und Verordnungen verändert worden sind, was zu einem Abfall oder einem Verlust der Schlüssel der Priestertumsvollmacht auf Erden geführt hat. Ein Wunder, größer noch als das der Brote und der Fische, war die Vision des Propheten Joseph Smith, der im heiligen Wald von Palmyra im Staat New York Gott den Vater und den Sohn sah. In der Folge wurden die Schlüssel, das Priestertum und die errettenden Verordnungen in ihrer Fülle wiederhergestellt, und die Kirche Christi wurde in unserer Zeit wieder errichtet. So hat Gott uns wieder „gespeist” und unsere „Körbe” bis zum Überfluß gefüllt.

Es wird gesagt, daß diese Kirche nicht unbedingt große Menschen anzieht, sondern eher einfache Menschen groß macht. Viele unbekannte Menschen mit Fähigkeiten, die nicht mehr als die fünf Brote und zwei Fische ausmachen, machen ihre Berufung groß, dienen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen oder Anerkennung zu erhalten, und speisen buchstäblich Tausende. In großem Maße machen sie es möglich, den Traum Nebukadnezzars wahr zu machen, daß das Evangelium Jesu Christi in den Letzten Tagen wie der Stein ist, der sich ohne Zutun von Menschenhand aus dem Berg löste und dahinrollte, bis er die ganze Erde erfüllte (siehe Daniel 2:34,35). Dies sind die Hunderttausende Führer und Lehrer in all den Hilfsorganisationen und Priestertumskollegien, die Heimlehrer, die Besuchslehrerinnen der Frauenhilfsvereinigung. Da sind auch die vielen demütigen Bischöfe der Kirche, einige davon ohne formelle Ausbildung, jedoch groß gemacht, immer lernend, mit dem demütigen Verlangen, dem Herrn und den Menschen in ihrer Gemeinde zu dienen.

Jeder Mann und jede Frau wird, berührt vom Meister, in seiner Hand wie der Ton des Töpfers. Wichtiger als Ruhm und Geld zu erlangen ist es, so zu sein, wie Gott uns haben will. Ehe wir zur Welt kamen, sind wir vielleicht vorbereitet worden, in diesem Leben ein wenig Gutes zu tun, das sonst niemand tun kann. Der Herr sprach zu Jeremia: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.” (Jeremia 1:5.) Wenn Gott etwas für diejenigen zu tun hat, die viele Talente besitzen, so hat er auch für diejenigen etwas Wichtiges zu tun, die nur wenige haben.

Was zeichnet die Menschen aus, die nur fünf Brote und zwei Fische haben? Was macht es ihnen möglich, unter der Hand des Meisters zu dienen, aufzurichten und zu segnen, so daß sie auf das Leben Hunderter, ja, sogar Tausender guten Einfluß nehmen? Ich habe mich ein Leben lang mit den Angelegenheiten von Männern und Frauen beschäftigt, und ich glaube, daß es die Fähigkeit ist, den Egoismus und den Stolz zu überwinden - beides sind nämlich Feinde, die verhindern, daß man sich völlig des Geistes Gottes erfreut und demütig vor Gott wandelt. Der Egoismus verhindert, daß Mann und Frau einander um Verzeihung bitten. Er verhindert, daß sie sich einer höheren Liebe erfreuen. Der Egoismus hält Eltern und Kinder oft davon ab, einander völlig zu verstehen. Der Egoismus macht uns aufgeblasen. Er macht uns blind für die Wirklichkeit. Der Stolz hält uns davon ab, dem Herrn unsere Sünden und Schwächen zu bekennen und uns um Umkehr zu bemühen.

Was ist mit denen, deren Talente nicht größer sind als zwei Brote und ein Fisch? Sie tun ein Großteil der schweren, niederen, uninteressanten und schlechtbezahlten Arbeit auf der Welt. Das Leben ist ihnen gegenüber vielleicht nicht immer fair. Sie mühen sich ab, nur um sozusagen Leib und Seele beisammen halten zu können. Und doch sind sie nicht vergessen. Wenn sie ihre Talente dafür einsetzen, das Reich Gottes aufzubauen und ihren Mitmenschen zu dienen, dann werden sie sich der Verheißungen des Erretters in vollem Umfang erfreuen. Die große Verheißung des Erretters lautet, daß sie ihren Lohn empfangen werden, „nämlich Frieden in dieser Welt und ewiges Leben in der zukünftigen Welt” (LuB 59:23). Derjenige, der zwei Talente empfangen hatte, konnte sagen: „Herr, du hast mir zwei Talente gegeben; sieh her, ich habe noch zwei dazu gewonnen.” Da sprach der Herr: „Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!” (Matthäus 25:22,23.) Einige sind mit Verstand und Talenten gesegnet, die fünfzehn Brote und zehn Fische wert sind. Diese Menschen können soviel geben, doch einige werden nicht so, wie sie sein könnten. Sie schöpfen ihre Möglichkeiten zu dienen nicht aus, vielleicht weil sie so stolz auf das sind, was sie zu wissen glauben und was sie besitzen. Sie scheinen nicht willens oder nicht fähig zu sein, den Einflüsterungen des Geistes nachzugeben und wie ein Kind zu werden, „fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, ihm aufzuerlegen, ja, wie eben ein Kind sich seinem Vater fügt” (Mosia 3:19).

Lange Zeit meines Lebens hindurch haben ein paar Journalisten und Abweichler den bevorstehenden Zusammenbruch der Kirche vorhergesagt. Sie haben oft auf die vorgebliche Unzufriedenheit der Jugendlichen mit der Kirche hingewiesen. Das Leben und die Hingabe unserer fast 50 000 jungen Missionare sind Zeugnis genug für die Glaubenstreue vieler unserer Jugendlichen. Außerdem ist während meines Lebens die Kirche von 525000 auf etwa achteinhalb Millionen Mitglieder gewachsen. Ich glaube und bezeuge, daß dies auf die Wiederherstellung der Fülle aller Schlüssel und Vollmacht des Evangeliums Jesu Christi durch Joseph Smith zurückzuführen ist.

Kürzlich gebrauchte ein Journalist, der nicht aus Utah ist, die Redewendung, da seien „Risse in den Mauern des Tempels”. Damit meint er wohl, daß die Grundfesten der Kirche durch die paar Menschen erschüttert würden, die die Führer der Kirche

nicht völlig unterstützen oder die ihre Bündnisse nicht völlig einhalten. Um die Vermutung von Rissen im Glauben unserer Mitglieder zu zerstreuen, brauchen wir uns nur die Menschen anzusehen, die voller Freude in irgendeinem der 45 Tempel in aller Welt Gott verehren. Da sind viele Ehepaare, die Hand in Hand gehen, und die vielen Ledigen, die im Haus des Herrn Frieden suchen. Ihr Gesicht zeigt, daß sie im Leben viel Freude und Erfüllung finden.

Ein Hauptgrund dafür, daß die Kirche aus ihren bescheidenen Anfängen zu ihrer gegenwärtigen Stärke heranwachsen konnte, liegt in der Glaubenstreue und der Hingabe der Millionen demütiger Menschen, die nicht mehr als fünf Brote und zwei kleine Fische in den Dienst des Herrn einbringen können. Sie haben ihre eigenen Interessen weitgehend zurückgesteckt und haben dadurch den Frieden Gottes gefunden, der alles Verstehen übersteigt (siehe Philipper 4:7). Ich möchte nur zu denen gehören, die diesen himmlischen inneren Frieden erfahren.

Unter unseren Zuhörern befinden sich heute auch Jeff und Joyce Underwood aus Pocatello in Idaho. Sie sind die Eltern von Jeralee und fünf weiteren Kindern. Jeff arbeitet bei einem Hausmeisterdienst, der sich um einige unserer Kirchengebäude in Pocatello kümmert. Joyce ist Mutter und Hausfrau. An einem Julitag machte ihre Tochter Jeralee die Runde bei den Leuten, bei denen sie die Zeitung austrug, und kassierte das Geld ein. Jeralee kam nicht zurück - nicht an dem Tag, nicht am nächsten und nicht am folgenden, niemals.

Zweitausend Menschen aus der Gegend suchten Tag für Tag nach ihr. Andere Kirchen schickten Helfer und Lebensmittel für die Suchmannschaften. Es stellte sich heraus, daß Jeralee von einem bösen Menschen entführt und brutal ermordet worden war. Als man die Leiche fand, war die ganze Stadt entsetzt und schockiert. Aus allen Bereichen des Gemeinwesens brachte man Jeff und Joyce Liebe und Mitgefühl entgegen. Manche wurden zornig und wollten Rache nehmen. Nachdem Jeralees Leiche gefunden war, traten Jeff und Joyce sehr gefaßt vor die Kameras und die anderen Medien und sagten all denen von Herzen Dank, die bei der Suche mitgeholfen hatten, und die ihnen Mitgefühl und Liebe entgegengebracht hatten. Joyce sagte: „Ich weiß, der himmlische Vater hat unser Beten erhört; er hat unsere Tochter zu uns zurückgebracht.” Jeff sagte: „Wir brauchen uns nicht länger darum zu sorgen, wo sie ist.” Joyce fuhr fort: „In dieser Woche habe ich viel über die Liebe gelernt, und ich weiß auch, daß es viel Haß gibt. Ich habe auf die Liebe geblickt, und diese Liebe möchte ich fühlen, nicht aber den Haß. Wir können vergeben.”

Elder Joe J. Christensen und ich durften unter den Tausenden sein, die an Jeralees Beisetzung teilnahmen. Der Heilige Geist hat jene Versammlung auf bemerkenswerte Weise gesegnet und der Seele eines jeden Anwesenden Frieden zugesprochen. Später schrieb Jeralees Pfahlpräsident, Kert W. Howard: „Familie Underwood hat Briefe von Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche bekommen, die schrieben, daß sie für Jeralee gebetet hätten, daß sie schon seit Jahren nicht mehr gebetet hätten und daß sie dadurch den Wunsch entwickelt hätten, zur Kirche zurückzukehren.” Präsident Howard fährt fort: „Wir werden nie erfahren, in welchem Ausmaß dieses eine Ereignis zur Aktivierung und Wiederbekehrung beigetragen hat. Wer kennt schon die weitreichenden Auswirkungen, die Jeralees Leben auf ungezählte Generationen haben wird.” (Aus einem Brief vom 8. Dezember 1993.) Viele sind zur Kirche gekommen, weil sie wissen wollten, was für eine Religion den Underwoods solche geistige Kraft geben kann.

Das Gute, das diesem tragischen Ereignis entsprang, erwähne ich, weil Jeralees Eltern es mir ausdrücklich erlaubt und mich dazu ermutigt haben. Ihre Tochter war wie der kleine Junge, der der Sache des Herrn nichts als nur fünf Gerstenbrote und zwei kleine Fische bieten konnte, doch durch die Macht Gottes sind unzählige Tausende geistig gespeist worden.

Ich bezeuge, daß das Evangelium, das wir lehren, die Kraft Gottes ist, die jeden errettet, der glaubt (siehe Römer 1:16), und zwar ungeachtet seiner Talente und Fähigkeiten. Im Namen Jesu Christi. Amen.