Geschichte der Kirche
19 Die Kammern des Herrn


„Die Kammern des Herrn“, Kapitel 19 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 19: „Die Kammern des Herrn“

Kapitel 19

Die Kammern des Herrn

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Soldaten mit Gewehren beim Marschieren

Am 13. September 1857 trafen Johan und Carl Dorius in Salt Lake City ein. Seite an Seite mit ihren Ehefrauen Karen und Elen zogen sie ihre Handkarren. Alles, was sie irgendwie entbehren konnten, hatten sie entlang der Strecke zurückgelassen, um sich von Lasten zu befreien, und so trugen sie und der Rest der Abteilung bei ihrer Ankunft die gleiche zerschlissene Kleidung, die sie schon seit Wochen anhatten. Einige Frauen hatten ihre Füße mit Sackleinen umwickelt, weil ihre Schuhe völlig ausgetreten waren. Dennoch waren die Auswanderer dankbar, nun in Zion zu sein, nachdem sie monatelang unterwegs gewesen waren, und sie hatten am ersten Handkarren voller Stolz eine dänische Flagge angebracht.1

Als die Auswanderer durch die Stadt zogen, brachte man ihnen zur Begrüßung Kuchen und Milch. Schon bald entdeckten die Brüder Dorius ihren Vater in der Menge. Nicolai begrüßte sie freudig und stellte ihnen seine neue Frau vor: Hannah Rasmussen, die ebenfalls aus Dänemark kam. Die Brüder und ihre Familien brachten die Handkarren zu einem Rastplatz in der Stadt, entluden ihre wenigen Habseligkeiten und folgten Nicolai und Hannah zu einem kleinen, gemütlichen Häuschen am südlichen Ende der Stadt.2

Nicolai und Hannah hatten sich zwei Jahre zuvor kennengelernt, als sie mit derselben Abteilung in den Westen gezogen waren. Hannah war zu der Zeit noch verheiratet gewesen, aber ihr Mann hatte sie und ihren heranwachsenden Sohn Lewis schon verlassen, ehe sie angekommen waren. Da er den Schmerz einer gescheiterten Ehe aus eigener Erfahrung kannte, konnte Nicolai nachvollziehen, wie es ihr ging. Am 7. August 1857 wurden sie im Endowment House gesiegelt. Lewis nahm kurz danach den Namen Dorius an.3

Während sich Johan, Carl und ihre Ehefrauen von dem Marsch erholten, bereiteten sich die Heiligen im ganzen Territorium auf die Ankunft der Armee vor. Vorsorglich verhängte Brigham Young am 15. September das Kriegsrecht und erließ eine Erklärung, die es der Armee verbot, das Territorium zu betreten. Boten der Armee hatten zwar versichert, dass die Truppen nur kämen, um einen neuen Gouverneur im Territorium einzusetzen, aber die Heiligen hatten Spione ins Lager der Armee entsandt, und diese hatten berichtet, dass Soldaten damit geprahlt hatten, was sie den Heiligen antun wollten, wenn sie erst einmal in Utah waren.4

Die Erinnerung, wie Milizen und der Mob in Missouri und Illinois Häuser geplündert, Siedlungen niedergebrannt und Heilige umgebracht hatten, quälte Brigham, und er war entschlossen, das Tal zu evakuieren und Salt Lake City zu zerstören, sobald die Armee einmarschierte. „Bevor ich erleide, was ich in vergangenen Zeiten erlitten habe“, erklärte er Mitte September, „wird kein einziges Gebäude, kein Zentimeter Holz, kein Stock, kein Baum, kein Grashalm und kein bisschen Heu, nichts, was man verbrennen könnte, unseren Feinden in die Hände fallen.“5

In den Tagen vor der Generalkonferenz im Oktober sprach er häufig darüber. „Folgen wir den Lehren unseres Erretters“, ermutigte er die Heiligen. „Ich weiß, dass alles recht ausgehen wird und eine allweise, alles beherrschende Vorsehung uns zum Sieg verhelfen wird.“6

Auch wenn sie kein Englisch verstanden, nahmen Johan und Carl Dorius am 7. Oktober zum ersten Mal an der Generalkonferenz teil. Am Ende der Versammlung sprach Brigham das Schlussgebet: „Segne deine Heiligen in den Tälern der Berge“, bat er. „Verbirg uns in den Kammern des Herrn, dort, wo du dein Volk gesammelt hast, wo wir seit vielen Jahren in Ruhe und Frieden leben.“7

Eine Woche später zogen Nicolai und Hannah nach Fort Ephraim im Sanpete Valley, wo schon Nicolais Töchter Augusta und Rebekke lebten. Johan und Karen hingegen blieben mit Carl und Elen in der Stadt. Wie die meisten Auswanderer, die im Salzseetal eintrafen, ließen sie sich zur Erneuerung ihrer Bündnisse noch einmal taufen. Außerdem bereiteten sie sich darauf vor, im Endowment House die heiligen Handlungen des Tempels zu empfangen.

Johan und Carl hielten sich bereit, die Stadt zu verteidigen.8


Ungefähr zu dieser Zeit kam John D. Lee nach Salt Lake City und berichtete Brigham Young und Wilford Woodruff von dem Massaker, das in Mountain Meadows stattgefunden hatte. Johns Aussagen über die Gruppe aus Arkansas waren jedoch größtenteils irreführend. „Viele von ihnen gehörten zum Mob in Missouri und Illinois“, log er. „Auf ihrem Weg nach Süden verfluchten sie Brigham Young, Heber C. Kimball und die anderen Führer der Kirche.“9

Außerdem wiederholte John die falschen Gerüchte, dass die Auswanderer das Vieh vergiftet und die Paiute aufgehetzt hätten. „Die Indianer haben fünf Tage mit ihnen gekämpft, bis alle Männer tot waren“, behauptete er und verschwieg, dass auch Heilige beteiligt gewesen waren. „Dann stürmten sie ihre Wagenburg und schnitten den Frauen und Kindern die Kehle durch, einzig acht oder zehn Kinder ließen am Leben, die sie den Weißen verkauften.“

John verschwieg, welche Rolle er bei dem Angriff gespielt hatte, und behauptete, er sei erst nach dem Massaker nach Mountain Meadows gekommen, um beim Begraben der Leichen zu helfen. „Es war einfach grauenvoll“, berichtete er. „Ein entsetzlicher Gestank lag in der Luft.“

„Das ist sehr betrüblich“, antwortete Brigham, der die Geschichte glaubte.10 Zwei Monate später verfasste John seinen Bericht über das Massaker schriftlich und schickte ihn nach Salt Lake City. Brigham übernahm lange Passagen aus diesem Brief für den offiziellen Bericht über das Massaker, den er dem Beauftragten für indianische Angelegenheiten in Washington schickte.11


In der Zwischenzeit verbreiteten sich die Gerüchte über das Massaker bis nach Kalifornien. Weniger als einen Monat danach erschien bereits der erste detaillierte Bericht über das Gemetzel in einer Zeitung in Los Angeles.12 Andere Zeitungen übernahmen die Geschichte schnell.13 In den meisten Berichten wurde vermutet, dass die Heiligen etwas mit dem Angriff zu tun hatten. „Wie kann man nur so blind sein und nicht erkennen, dass hier Mormonen ihre Hände mit Blut befleckt haben?“, wurde in einem Leitartikel gefragt.14

Da er keine Ahnung hatte, dass Heilige aus Cedar City maßgeblich für das Massaker verantwortlich waren, strafte George Q. Cannon die Berichte mit Verachtung. Als Herausgeber des Western Standard, der Zeitung der Kirche in San Francisco, beschuldigte er die Reporter, Hass gegen die Heiligen zu schüren. „Wir sind es müde, ständig angegriffen und zu Unrecht angeklagt zu werden“, schrieb er. „Wir wissen, dass die Mormonen in Deseret ein fleißiges, friedliches und gottesfürchtiges Volk sind, das auf das Schlimmste geschmäht und verleumdet wird.“15

Etwa zu dieser Zeit kehrten nach und nach die Missionare aus aller Welt zurück, da Brigham Young sie aufgerufen hatte, ihren Familien beizustehen und Zion vor der Armee zu beschützen. Am 22. Oktober trafen der achtzehnjährige Joseph F. Smith und weitere Missionare aus Hawaii völlig mittellos am Verlagsgebäude des Western Standard ein. George gab Joseph einen Mantel und eine warme Decke, bevor er ihn und seine Mitarbeiter weiterschickte.16

Gut einen Monat später, am 1. Dezember, kamen die Apostel Orson Pratt und Ezra Benson in Begleitung einiger Missionare aus der Britischen Mission in San Francisco an. Da sie von der Verlautbarung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, die Heiligen befänden sich im offenen Aufstand gegen die Regierung, wussten, waren sie unter falschem Namen gereist, um unterwegs nicht erkannt zu werden. Sie suchten George auf und drängten ihn, sie auf ihrem Rückweg nach Zion zu begleiten.

Angesichts der Feindseligkeit, die den Heiligen in Kaliforniern entgegenschlug, war George leicht zu überzeugen. Er hatte den Druck des Buches Mormon in hawaiianischer Sprache – eine seiner wichtigsten Aufgaben – bereits abgeschlossen. „Ich verlasse San Francisco ohne das geringste Bedauern“, notierte er in seinem Tagebuch.17

Zur gleichen Zeit verließen viele Heilige Kalifornien in kleinen Gruppen, nachdem sie gehört hatten, dass Männer sich zusammenrotteten und aus Rache für das Massaker von Mountain Meadows Mitglieder der Kirche angriffen.18 Joseph F. Smith hatte Arbeit gefunden: Er sollte eine Herde Rinder nach Utah treiben. Als er eines Tages Feuerholz sammelte, ritten einige Männer ins Lager und drohten damit, jeden „Mormonen“, den sie antrafen, umzubringen.

Einige der Männer im Lager versteckten sich im Gebüsch an einem Bach in der Nähe. Joseph wollte auch schon fliehen, doch dann besann er sich.19 Er hatte seine Schwester Martha Ann einmal aufgefordert, „durch und durch Mormonin“ zu sein.20 Galt für ihn nicht dasselbe?

Mit dem Feuerholz unter dem Arm betrat Joseph das Lager. Einer der Reiter ritt langsam auf ihn zu, eine Pistole in der Hand. „Bist du ein Mormone?“, herrschte er ihn an.

Joseph sah ihm direkt in die Augen und erwartete, dass der Mann ihn gleich erschießen würde. „Jawohl, das bin ich“, sagte er. „Durch und durch, vom Scheitel bis zur Sohle!“

Verdutzt schaute der Mann Joseph an. Dann senkte er die Pistole und schien für einen Augenblick wie gelähmt. „Schlag ein, junger Mann“, sagte er schließlich und streckte die Hand aus. „Ich freue mich, jemanden zu sehen, der für seine Überzeugung einsteht.“

Er und die anderen Männer wendeten die Pferde und verließen das Lager, und Joseph und die Mitglieder der Gruppe dankten dem Herrn, dass er sie aus der Gefahr befreit hatte.21


Viele der Heiligen in Kalifornien brachen sofort nach Utah auf, aber andere waren nicht bereit, alles zurückzulassen. Etliche Familien hatten sich in San Bernardino, der größten Siedlung der Heiligen in Kalifornien, ein gemütliches Heim geschaffen und ein florierendes Geschäft aufgebaut. Sie waren stolz auf ihre schönen Farmen und Obstplantagen. Keiner von ihnen wollte die Früchte der jahrelangen harten Arbeit einfach aufgeben.22

Zu dieser Gruppe gehörten auch Addison und Louisa Pratt, die seit ihrer Rückkehr von den Pazifischen Inseln 1852 in San Bernardino wohnten. Louisa war bereit, wegzugehen, auch wenn sie sehr an ihrem Heim und ihrem Obstgarten in Kalifornien hing. Addison jedoch zögerte, all das zurückzulassen. Die Probleme in Utah lasteten schwer auf ihm und hatten ihn verbittert.

Außerdem hatte Addison in den letzten fünf Jahren einige Enttäuschungen erlebt. Er hatte ein weiteres Mal im Südpazifik auf Mission gehen wollen, aber die Regierung des französischen Protektorats Tahiti hatte ihm das Predigen so gut wie verboten. Noch dazu hatte sich sein früherer Mitarbeiter, Benjamin Grouard, von der Kirche abgewandt.23

Darüber hinaus zog Addison das warme Klima in Kalifornien dem oft unberechenbaren Wetter in Utah vor. Und er war den Vereinigten Staaten treu ergeben. Sollten amerikanische Soldaten in Utah einmarschieren, könnte er nicht guten Gewissens gegen sie kämpfen.

Sein unwilliges Zaudern störte Louisa. Ihre drei ältesten Töchter waren inzwischen verheiratet. Zwei von ihnen, Ellen und Lois, hatten vor, mit ihren Ehemännern nach Utah zu ziehen. Auch Ann, die jüngste Tochter, wollte weg. Nur Frances und ihr Mann blieben in Kalifornien.24

Spätabends, wenn die Einwohner von San Bernardino schon schliefen, ging Louisa oft hinaus, um die Bäume in ihrem Obstgarten zu gießen. Sie begannen gerade erst, Früchte zu tragen. „Muss ich gehen und all das zurücklassen?“, fragte sie sich. Im Norden zog sich ein schmaler Weg den dunklen Berg hinauf bis zu einem Gebirgspass. Auf der anderen Seite des Berges lagen hunderte Kilometer karge Wüste. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich leichter dazu durchringen könnte, die beschwerliche Reise nach Utah auf sich zu nehmen, wenn Addison nicht so ablehnend wäre.25

Als sie die Entscheidung abwog, wurde ihr bewusst, wie sehr ihr die Kirche am Herzen lag. Bei ihrer Taufe hatte sie versprochen, sich mit den Heiligen zu vereinen. Und sie wusste, dass die Kirche rasch zu einer Gemeinschaft von Fremden werden würde, wenn die Mitglieder lieber ihre eigenen Wege gingen. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie wollte nach Utah zurückkehren.

Anfang Januar verließen Louisa und Ann Kalifornien zusammen mit Ellen und Lois und deren Familien. Louisa konnte sagen, was sie wollte – Addison ließ sich nicht dazu bewegen, sie zu begleiten. Er sagte lediglich, dass er im folgenden Jahr zu ihnen stoßen wolle und vielleicht sogar Frances und ihren Ehemann mitbringen würde. Er begleitete seine Familie auf dem Weg über den Berg und kümmerte sich darum, dass eine Gruppe mit Planwagen sie aufnahm.

Noch tagelang weinten Louisa und ihre Töchter um die Angehörigen, die sie zurückgelassen hatten.26


Ende März 1858 lagerten die Truppen der Vereinigten Staaten, nun unter dem Kommando von General Albert Sidney Johnston, an der Grenze zum Territorium Utah. Um das Vorrücken der Armee zu verzögern, hatte die Miliz der Heiligen im Herbst deren Vorräte geplündert und Wagen und Forts angezündet. Wegen dieser Überfälle waren die Soldaten verärgert und fühlten sich gedemütigt. Sie verfluchten die Heiligen, weil sie den Winter im Schnee neben den verkohlten Überresten ihrer Planwagen verbringen und von kargen Rationen leben mussten.

In jenem Winter hatte Thomas Kane, der Verbündete der Heiligen aus dem Osten, die riskante Schiffsreise nach Kalifornien gewagt, den Isthmus von Panama überquert und dann über Land Salt Lake City erreicht. Mit der inoffiziellen Unterstützung von Präsident James Buchanan im Rücken traf er sich zuerst mit Brigham und anderen Führern der Kirche, bevor er das Armeelager aufsuchte, um Friedensverhandlungen zu führen. Die Armeeführung machte sich jedoch über sein Gerede vom Frieden lustig.27

„Unsere Feinde sind fest entschlossen, uns mit Stumpf und Stiel auszurotten, wenn sie es können“, erklärte Brigham den Heiligen bei einer Sonderkonferenz in Salt Lake City.28 Um Leben zu retten und vielleicht auch bei etwaigen Verbündeten im Osten Mitleid zu erwecken, kündigte er den Plan an, dass alle Heiligen, die in Salt Lake City und Umgebung lebten, nach Provo und in andere Siedlungen im Süden umziehen sollten.29 Dieser verwegene Plan würde das Leben vieler Mitglieder der Kirche auf den Kopf stellen, und Brigham war sich nicht ganz sicher, ob es die richtige Entscheidung war.

„‚Kann ein Prophet oder ein Apostel einen Fehler machen?‘ Stellt mir keine solche Frage, denn das kann ich immer nur bestätigen“, erklärte er. „Aber ich werde nicht bestätigen, dass ich dieses Volk absichtlich auch nur um Haaresbreite von der Wahrheit weggeführt habe. Und wissentlich begehe ich keinen Fehler, auch wenn ich vermutlich vieles falsch mache.“30

Brigham war davon überzeugt, dass es besser war, entschlossen zu handeln, als zu riskieren, dass die Heiligen die gleichen Gräuel ertragen mussten wie in Missouri und Illinois. Innerhalb weniger Tage berief er fünfhundert Familien, sofort in den Süden zu ziehen und für die tausenden Heiligen, die noch folgen sollten, Feldfrüchte auszusäen. Außerdem sandte er Männer aus, ein neues Gebiet für die Besiedelung auszukundschaften, und wies die Heiligen in den südlichen Ortschaften an, sich auf die Aufnahme der Geflüchteten vorzubereiten.31 Bald schon beluden die Heiligen im Salzseetal Wagen und machten sich zum Abmarsch bereit.32

Wenige Wochen später traf Alfred Cumming, der neu ernannte Gouverneur des Territoriums Utah, der Einladung von Thomas Kane folgend in Salt Lake City ein. Um seine Friedfertigkeit zu bekunden, kam er ohne militärische Eskorte.33 Alfred Cumming war fünfundfünfzig Jahre alt und hatte im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten bereits verschiedene Ämter bekleidet. Auch schien er nicht die üblichen Vorurteile gegen die Heiligen zu teilen.

Als er Salt Lake City betrat, sah er Menschen, die Möbel und Vorräte auf Wagen luden, ihr Vieh zusammentrieben und nach Süden loszogen. „Geht nicht fort! Euch soll nichts geschehen!“, rief er ihnen zu. „Wenn ihr mich nicht wollt, will ich nicht Gouverneur sein!“34 Seine Worte konnten ihre Meinung jedoch nicht ändern.

In Salt Lake City untersuchten Alfred Cumming und Thomas Kane einige der Vorwürfe, dass sich die Heiligen im Aufstand befänden, und trafen sich mit Brigham und anderen Führern der Kirche. Nach einigen Tagen war Cumming zu der Überzeugung gelangt, dass die Vorwürfe stark übertrieben waren.35

Gut eine Woche nach seiner Ankunft wandte er sich an eine Kirchengemeinde in Salt Lake City. „Wenn ich in meinen Verwaltungsaufgaben Fehler mache“, sagte er den Heiligen, „möchte ich, dass Sie, meine Freunde, zu mir kommen und mich beraten.“ Er bestätigte, dass die Beschreibungen der Heiligen außerhalb Utahs maßlos verzerrt waren, und versprach, seine Aufgaben nach bestem Wissen zu erfüllen.36

Am Ende seiner Ausführungen waren die Heiligen noch immer misstrauisch, Brigham aber erhob sich und sicherte ihm seine Unterstützung zu. Es war ein lauwarmer Empfang, aber Cumming hatte Grund zu der Hoffnung, dass man ihn als neuen Gouverneur akzeptieren würde.37


Trotz der beruhigenden Worte des Gouverneurs jedoch drängten sich auf der Straße nach Süden in Richtung Provo Planwagen, Kutschen und Viehherden auf einer Strecke von über sechzig Kilometern.38 Brighams Familie fand in mehreren Gebäuden in Provo Unterschlupf. Andere Heilige hatten keine Ahnung, wo sie nach ihrer Ankunft in den Siedlungen im Süden unterkommen sollten. Es gab nicht genügend Häuser für alle, und manchen Familien blieb nichts anderes übrig, als im Planwagen oder in einem Zelt zu bleiben. Und da die Armee noch im Anmarsch war, fragten sich viele, wie bald sie die ersten Rauchschwaden aus dem Salzseetal aufsteigen sehen würden.39

Am 7. Mai zog Martha Ann Smith Harris mit ihrer Schwiegermutter und dem Rest der Familie Smoot in einen Ort namens Pond Town, etwa fünfundzwanzig Kilometer südlich von Provo.40 Bevor er Salt Lake City verließ, hatte Bischof Smoot fünf Fässer Schießpulver im Fundament seines Hauses deponiert, um es leichter zerstören zu können, falls die Armee die Stadt erobern sollte. Andere Mitglieder der Gemeinde Sugar House folgten den Smoots nach Pond Town, und Bischof Smoot und seine Ratgeber schlugen bald vor, dort eine neue Gemeinde zu gründen.41

Für Martha Ann unterbrach der Umzug das tägliche Einerlei. Bisher war sie damit beschäftigt gewesen, Garn zu spinnen, zu weben, Kühe zu melken, Butter zu machen, an der Schule zu unterrichten und ihrer Schwiegermutter Lesen und Schreiben beizubringen. Nun allerdings hatten sie und die gesamte Familie neue Aufgaben zu bewältigen.42 Die Heiligen in Pond Town und anderen Siedlungen hatten sich in der Nähe von frischem Wasser niedergelassen. Sie bauten Unterkünfte, legten Äcker und Gärten an und bauten Werkstätten und Mühlen.43

Die Frühlingsluft war anfangs kalt, und die notdürftigen Unterkünfte boten nur wenig Schutz.44 Die Heiligen in den Übergangssiedlungen litten zwar unter dem schlechten Wasser und mangelnden Vorräten, aber die meisten waren doch froh, außer Reichweite der Armee zu sein. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihr neues Zuhause.45

Der größte Teil der Familie Smith war in den Süden gezogen, aber Martha Anns Bruder Joseph, der ja erst vor kurzem aus Hawaii zurückgekehrt war, blieb in Salt Lake City und diente mit anderen jungen Männern, darunter Johan und Carl Dorius, in der Miliz. „Ich mache hier jetzt so gut wie gar nichts“, berichtete Joseph in einem Brief. „Die Stadt, die Häuser, das Land, alles sieht einsam und verlassen aus.“46

Martha Ann hörte nur selten von ihrem Mann William, der sich noch auf Mission in England befand. Das letzte Mal hatte er ihr Ende November 1857 geschrieben, kurz nachdem Brigham die Missionare zurückbeordert hatte. „Meine liebe Martha, mich bewegen so viele Gedanken, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll“, hatte William geschrieben. „Wie es im Moment aussieht, werde ich mich bald in die Heimat aufmachen und den tosenden Ozean überqueren. …

Bis bald also, Liebste“, hatte er noch hinzugefügt, „bis wir uns wiedersehen!“

In seinem Brief ging William davon aus, dass er im Frühjahr wieder zu Hause sein würde. Nun war der Frühling fast vorbei, aber Mary Ann hatte nichts von ihm gehört.47


Vor dem Umzug in den Süden hatten rund achttausend Menschen in Salt Lake City gelebt. Bis Mitte Juni waren nur noch etwa fünfzehnhundert geblieben. Die meisten Häuser und Werkstätten waren verlassen und die Türen und Fenster mit Brettern vernagelt. Die Gärten der Heiligen waren grün und blühten trotz mangelnder Pflege. Manchmal war das leise Rieseln der Bewässerungsgräben, die die Straßen säumten, das einzige Geräusch in der Stadt.48

Eine von der Regierung gesandte Friedenskommission kam um diese Zeit an und bot Brigham Young und den Heiligen die vollständige Begnadigung des Präsidenten für alle Verbrechen an, wenn sie fortan der Regierung gehorsam waren. Die Heiligen waren zwar nicht der Ansicht, dass sie irgendwelche Verbrechen begangen hätten, nahmen die Begnadigung aber trotzdem an.

Im Osten der Vereinigten Staaten war das Verhältnis zu den Heiligen weiterhin von Misstrauen und Missverständnissen geprägt. Nachdem aber Regierungsbeamte Utah besucht hatten und Brigham seinen Gouverneursposten friedlich Alfred Cumming überlassen hatte, glaubte man gemeinhin im Osten nicht mehr an einen Aufstand der Heiligen.49 Zeitungsredakteure, die vorher Brigham Young kritisiert hatten, beschwerten sich nun über Präsident James Buchanan.

„Der Krieg gegen die Mormonen war zweifellos von Anfang bis Ende ein grober Fehler nach dem anderen“, schrieb ein Reporter. „Wie man es auch betrachtet, es war eine lange Reihe dummer Ausrutscher.“50

Am 26. Juni 1858 marschierte die Armee in Salt Lake City ein. Der Ort glich einer Geisterstadt. Auf den Straßen und in den Vorgärten der Häuser wuchs Gras. Vor ihrer Abreise hatten die Heiligen das Fundament des Tempels zugeschüttet, um es vor plündernden Soldaten zu schützen. Als die Truppen am Tempelgelände vorbeikamen, sahen sie nichts weiter als ein gepflügtes Feld.51


Nachdem der später so bezeichnete Utah-Krieg vorüber war, forderte Brigham Young alle auf, in ihre Häuser zurückzukehren. Viele Heilige machten sich Anfang Juli wieder auf den Weg nach Norden. An einem Engpass, wo die Berge das Salzseetal vom Utah Valley trennen, sahen sie die Armee auf sich zukommen. Die Truppen waren auf dem Weg nach Camp Floyd, einem neuen Außenposten in einem abgelegenen Gebiet namens Cedar Valley, gut sechzig Kilometer südwestlich von Salt Lake City.52

Als die Armee nahe an den Heiligen vorbeizog, drangsalierten einige Soldaten die jungen Frauen und die Männer, die mit mehreren Ehefrauen in Kutschen unterwegs waren. Schließlich war die Straße zu voll, sodass manche zurückkehrenden Heiligen drei Stunden warten mussten, bis die Armee vorbeimarschiert war. Als die Straße endlich frei war, konnten die Heiligen ihre Fahrt fortsetzen.53

Der Umzug nach Süden hatte die Kirche weit über die südlichen Täler zerstreut, und es kostete Zeit und Mittel, sie wieder im Norden zu sammeln. Als die Heiligen heimkehrten, waren ihre Häuser, ihre Farmen und die öffentlichen Anlagen verwahrlost. Die Gemeindearbeit war größtenteils zum Erliegen gekommen. Die meisten Frauenhilfsvereinigungen und Sonntagsschulen hatten sich komplett aufgelöst.54

Als Familie Smoot Mitte Juli Pond Town verließ, lenkte Martha Ann das Pferdegespann für ihre Schwiegereltern. Am 12. Juli, als sie gerade einen Berg umrundete und ins Salzseetal einfuhr, entdeckte sie in der Ferne jemanden, der ihr auf einem weißen Maultier entgegenritt. Beim Näherkommen erkannte Martha Ann überrascht, dass der Reiter ihr Mann William war, der soeben von seiner Mission heimgekehrt war.55