Geschichte der Kirche
21 Im selben großen Werk


„Im selben großen Werk“, Kapitel 21 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 21: „Im selben großen Werk“

Kapitel 21

Im selben großen Werk

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Pferdekutsche fährt vor dem Weißen Haus vor

„Das Kriegsgerede macht die Leute ganz verrückt“, schrieben die Apostel Orson Pratt und Erastus Snow im Frühjahr 1861 an Brigham Young. „Armeen werden aufgestellt, exerzieren, marschieren und wappnen sich für den schrecklichen Konflikt. Bald kommt wohl die Zeit, da keiner, der nicht mit in den Krieg ziehen will, im Norden oder im Süden bleiben darf.“1

Der spektakuläre Austritt South Carolinas aus der Union der Vereinigten Staaten hatte in den Südstaaten überall Aufstände zur Folge. In den folgenden Monaten traten zehn weitere Südstaaten aus dem Staatenbund aus, und die Regierung der Vereinigten Staaten war krampfhaft bemüht, ihre Militärstützpunkte zu verstärken. Die Streitkräfte der Südstaaten eroberten jedoch in Windeseile fast alle bis auf die am stärksten befestigten Forts, und Präsident Abraham Lincoln ließ fünfundsiebzigtausend Rekruten anwerben, um den Aufstand niederzuschlagen. Angesichts der kritischen Lage erwies sich diese Zahl jedoch schon bald als zu klein.2

Seit sich Orson mit Erastus im Herbst in den Osten begeben hatte, wo sie die Mission in den östlichen Bundesstaaten leiteten, konnte er miterleben, wie sich der Konflikt immer mehr zuspitzte. Fast drei Jahrzehnte zuvor hatte Orson als junger Missionar eine Abschrift der Prophezeiung Joseph Smiths über den Krieg bei sich geführt und mitunter in einer Versammlung daraus zitiert. Damals hatten die meisten das als Unsinn abgetan, doch nun verfehlte der Text seine Wirkung nicht.3 Orson las die Prophezeiung in aller Öffentlichkeit vor und ließ sie auch in der New York Times abdrucken.4 Weitere Zeitungen veröffentlichten sie ebenfalls.

„Hatten wir etwa einen Propheten unter uns?“, fragte ein Blatt aus Philadelphia, in dem die Prophezeiung ebenfalls erschienen war. „Angesichts der derzeitigen Unruhen scheint sich die Vorhersage wohl zu bewahrheiten – ungeachtet der Frage, ob Joe Smith nun ein Schwindler war oder nicht.“5

Da sowohl der Norden als auch der Süden für den Bürgerkrieg Streitkräfte aufstellte, riefen die Missionare auf Weisung von Orson und Erastus die Heiligen im Osten dazu auf, sich nach Zion zu begeben. Die Führer der Kirche zogen durch Städte und ländliche Gebiete, um Mitglieder aufzusuchen, die sich von der Herde abgewandt hatten, und sie zur Rückkehr zu ermahnen.6

Mit durchschlagendem Erfolg. An die tausend Heilige aus Philadelphia, New York und Boston bestiegen im Juni einen Zug nach Florence. „Der Zug war so lang und so schwer“, schrieb Orson an Brigham, „dass er von zwei Lokomotiven gezogen werden musste.“ Fünfhundert Mitglieder der Kirche aus dem mittleren Westen machten sich zu Fuß oder mit Planwagen gen Westen auf.7

Solch gewaltige Wanderbewegungen fanden jedoch nicht allein unter Amerikanern statt. Im Frühjahr 1861 überquerten Scharen von Heiligen auf dem Weg nach Westen den Atlantik. Im Jahr zuvor hatte die Erste Präsidentschaft George Q. Cannon berufen, gemeinsam mit Amasa Lyman und Charles Rich über die Britische Mission zu präsidieren und die Auswanderung zu steuern.8 Nun schickten diese Brüder zweitausend Heilige aus Europa und Südafrika nach Zion.

Anstatt die vielen Auswanderer, die sich die Überquerung der Prärie finanziell nicht leisten konnten, mit Handkarren auszurüsten, stellte die Kirche zweihundert Planwagen und siebzehnhundert Ochsen am Missouri bereit. Viele Gespanne waren von Gemeinden in Utah gespendet worden. Die mittellosen Mitglieder wurden einem von vier Wagenzügen zugeteilt, die die Strecke mehrmals zurücklegten und so die Heiligen zu dem relativ günstigen Preis von vierzehn Dollar für einen Erwachsenen und sieben Dollar pro Kind nach Utah brachten.9

In der Zwischenzeit erhob sich allenthalben auch die Frage, ob Utah weiterhin im Staatenverbund der Nordstaaten verbleiben, sich den aufständischen Südstaaten anschließen oder einen unabhängigen Staat gründen wolle. Viele Heilige verübelten es der Regierung der Vereinigten Staaten immer noch, dass sie keine Entschädigung für das in Missouri und Illinois erlittene Unrecht erhalten hatten. Sie lehnten auch die von der Regierung entsandten Beamten sowie die Stationierung einer Armee in Utah ab und waren verärgert, weil der Kongress sich weigerte, Utah den Status eines Bundesstaats zu gewähren.10

Trotz dieser Umstände hielt es Brigham Young für richtig, dass Utah weiterhin im Verband der Nordstaaten verbleibe, auch wenn deren Politik gegen die Heiligen gerichtet war. „Utah sagt sich nicht los, sondern tritt fest für die Verfassung und die Gesetze unseres einst so friedlichen Landes ein“, versicherte er den Abgeordneten im Osten.11


Nachdem dort der Bürgerkrieg ausgebrochen war, gelangten mit der Post Berichte über blutige Schlachten in den Westen. Sie zeichneten ein düsteres Bild von hunderten, manchmal tausenden Toten.12 Manche in der Kirche waren der Ansicht, dass Gott die Vereinigten Staaten nun dafür bestrafe, wie sie die Heiligen behandelt hatten.13

Eine Handvoll Mitglieder zog in den Krieg, doch die meisten waren damit zufrieden, in Utah zu bleiben und Zion aufzubauen. In diesem Sommer wollte Brigham Young das Fundament des Tempels wieder freilegen lassen, das ja zugeschüttet worden war, als man sich in den Süden zurückgezogen hatte, und er wollte mit dem Bau der Mauern des Tempels beginnen. Er kündigte auch ein größeres Theater an, das einige Querstraßen vom Tempelplatz entfernt liegen sollte und dessen Planung bereits im Gange war.14

Bislang hatte die Social Hall, also das Gemeindezentrum, als kleines Schauspielhaus gedient. Brigham aber schwebte ein Theater vor, das die Vorstellungskraft der Heiligen beflügelte. Theaterstücke übten ihren ganz eigenen Reiz aus und konnten belehren und erbauen, wie es eine Predigt nicht vermochte. Ein prachtvolles Theater in Salt Lake City würde Besuchern von auswärts auch vor Augen führen, dass die Heiligen – entgegen anderslautenden Bewertungen in so mancher Zeitung – ein gebildetes und kultiviertes Volk waren.15

Die Idee, ein Theater zu errichten, hatte Brigham schon zu Jahresbeginn gehabt. Zusammen mit Heber Kimball hatte er im Haus der Familie Bowring, wo im Erdgeschoss eine kleine Bühne aufgebaut worden war, eine Aufführung besucht. Henry und Marian Bowring waren Teil einer vorwiegend aus britischen Mitgliedern bestehenden Theatergruppe namens Mechanics’ Dramatic Association, der auch einige Handkarrenpioniere angehörten. Marian selbst war zusammen mit ihrer Tochter Emily mit der Handkarrenabteilung Martin in den Westen gekommen.

Brigham und Heber genossen die Vorstellung bei den Bowrings und erschienen am nächsten Abend samt Familie zu einer weiteren Aufführung.16 Bald darauf regte Brigham an, die Mechanics’ Dramatic Association mit einer weiteren Schauspielgruppe, der Deseret Dramatic Association, zusammenzulegen und ein größeres Theater zu errichten, in dem mehr Bewohner des Territoriums Unterhaltung auf hohem Niveau genießen konnten.

Wenngleich vom Wert der Arbeit fest überzeugt, ermunterte er die Heiligen doch auch dazu, sich zu entspannen und das Leben zu genießen. „Man braucht auch Unterhaltung“, erklärte er. Er war der Ansicht, dass Erholung und körperliche Ertüchtigung sowohl für den Körper als auch für die Seele wichtig waren.17

Die Kosten für den Theaterbau zweigte Brigham von einem ins Stocken geratenen Bauprojekt ab, der so genannten Halle der Wissenschaften, die für die Siebziger errichtet werden sollte.18 Im Sommer kam zusätzliches Geld für das Theaterprojekt in die Kassen, als die Armee, die im Cedar Valley stationiert war, wegen des Bürgerkriegs in den Osten zurückbeordert wurde. Vor dem Abzug sandte Brigham seinen Schwiegersohn Hiram Clawson, den Direktor des neuen Theaters, dorthin. Er kaufte der Armee zu günstigen Preisen Eisenwaren, Viehbestände und sonstige Waren ab. Brigham verkaufte diese dann teurer weiter und finanzierte mit dem Erlös den Bau des Theaters.19

Am 5. August besuchte die Erste Präsidentschaft samt ihren Sekretären die Baustelle. Brigham und Heber stiegen aus der Kutsche und inspizierten das Fundament. „Die Steine wirken sehr solide“, sagte Heber.

Brigham stimmte zu. „Ich sehe es immer gern, wenn irgendwo etwas Neues gebaut wird.“20

In den folgenden Wochen und Monaten ging der Bau des Theaters rasch voran.21 Manche beklagten sich, dass der Bau des Tempels viel langsamer voranzukommen scheine. Sie wussten allerdings nicht, welch sorgfältige Planungen unbemerkt für den Bau des viel größeren und komplexeren Hauses des Herrn in die Wege geleitet worden waren. Erst vor kurzem hatte man damit begonnen, das zugeschüttete Fundament des Tempels wieder freizulegen und aus einem Steinbruch gut dreißig Kilometer südlich große Granitblöcke herauszuschlagen. Warum gaben die Heiligen so viel Zeit und Geld für ein Theater aus, wo doch das Haus des Herrn noch nicht fertiggestellt war?22

Diese Einwände ließ Brigham nicht gelten. Er wollte auf keinen Fall, dass am Tempel übereilt gearbeitet wurde. Die Baukosten spielten für ihn keine Rolle, solange die Ausführung einwandfrei war. Bevor das Fundament des Tempels 1858 zugeschüttet wurde, waren die Steine nicht sachgemäß verlegt worden, was dazu führte, dass Teile des Sandsteinfundaments unter der enormen Last des Tempels zu bersten drohten.23 Sobald das Fundament wieder ausgegraben war, ließ Brigham die beschädigten Sandsteinblöcke instand setzen oder notfalls durch Granitblöcke aus dem Steinbruch ersetzen.

„Leistet an diesem Tempel gute Arbeit“, lautete sein Auftrag an die Handwerksmeister. Er wollte den Arbeitern genügend Zeit lassen, alles ordentlich zu machen. „Dieser Tempel soll so gebaut werden, dass er das Millennium überdauert“, erklärte er. „Dies ist nicht der einzige Tempel, den wir errichten werden. Es wird hunderte geben, und alle werden sie dem Herrn geweiht sein.“24

Das Salt-Lake-Theater öffnete seine Pforten am 6. März 1862 mit einer speziellen Weihungsfeier samt Gebet und Reden von Führern der Kirche. Im Anschluss daran wurde eine Komödie mit dem Titel Der Stolz des Marktes aufgeführt. Zwei Tage später wurde das Theater für die Allgemeinheit geöffnet. Hunderte Besucher standen schon zwei Stunden vor der Vorführung vor dem Theater Schlange, um einen Sitzplatz zu ergattern. Als sich der Vorhang hob, war kein einziger Platz mehr frei.

Die Theaterbegeisterung der Heiligen freute Brigham. „Die Hölle ist weit weg, und niemals werden wir dorthin gelangen, es sei denn, wir irrten vom Weg ab“, erklärte er anlässlich der Feierlichkeiten. „Der Weg, auf dem wir uns derzeit befinden, führt nämlich zum Himmel und zum Glück.“25


Am 5. Mai erhielt George Q. Cannon ein rätselhaftes Telegramm aus Salt Lake City. Er befand sich gerade im Büro der Britischen und Europäischen Mission in Liverpool, wo er seit anderthalb Jahren Missionspräsident war.

„Triff Senator Hooper Washington“, hieß es da. „25. Mai.“

George zitterte am ganzen Körper, und er hielt sich am Schreibtisch fest, um sich zu stützen. Er bekam kaum Luft. Wieder einmal hatte ihn ein Auftrag aus Salt Lake City völlig überrumpelt. Und die unklare Anweisung machte alles noch schlimmer. Wozu wurde er in Washington gebraucht?26

George wusste, dass die gesetzgebende Versammlung des Territoriums Utah vor kurzem ein weiteres Gesuch an den Kongress der Vereinigten Staaten verfasst hatte, als Bundesstaat anerkannt zu werden. Das bedeutete, dass zwei Senatoren ausgewählt werden und im Kongress den vorgeschlagenen Bundesstaat vertreten und für die Petition plädieren sollten. Das Telegramm schien nahezulegen, dass William Hooper, ein ehemaliger Kongressabgeordneter aus Utah, einer der beiden Senatoren sein solle.27 Sollte George der andere sein?

George interessierte sich für Politik. Als Junge war ihm in einem Segen verheißen worden, er werde eines Tages eine verantwortungsvolle politische Funktion übernehmen. Doch auch wenn er gern Utah im Kongress vertreten hätte, schob er seinen Wunsch beiseite, denn die Führer der Kirche konnten ihn ja auch aus einem anderen Grund nach Washington bestellt haben.28

Unlängst erst hatte Justin Morrill, ein Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, im Kongress einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Bigamie, also die Ehe mit mehr als einem Ehepartner gleichzeitig, in allen Territorien der Vereinigten Staaten untersagte.29 Vielleicht wurde George gebraucht, weil er für das Recht der Heiligen, die Mehrehe zu praktizieren, eintreten sollte? Sollte dieses Gesetz nämlich beschlossen werden, würden sich George und alle anderen Heiligen, die in Mehrehe lebten, strafrechtlich schuldig machen. Außerdem würde der Einfluss der Kirche in Utah eingeschränkt, weil sie nur noch in beschränktem Ausmaß Eigentum besitzen dürfte.30

Am Tag seiner Abreise gab George seiner Frau Elizabeth und seiner Tochter Georgiana, die in England geboren worden war, einen Segen. Weder Elizabeth noch das Baby waren gesund genug, ihn zu begleiten, und so vertraute George sie während seiner Abwesenheit neu gewonnenen Freunden in England an.

Als er zwei Wochen später in den Vereinigten Staaten ankam, erfuhr er, dass er tatsächlich gemeinsam mit William Hooper als Senator ausgewählt worden war für den Fall, dass das Gesuch um Eigenstaatlichkeit genehmigt werden würde. Mit dieser Ernennung gingen zwar derzeit keinerlei offizielle Befugnisse einher, doch die beiden konnten immerhin versuchen, Abgeordnete dazu zu bewegen, dass sie gegen Morrills Bigamiegesetz und für den Antrag auf die Aufnahme Utahs als Bundesstaat stimmten.31

In der Hoffnung, den Präsidenten für ihr Gesuch gewinnen zu können, besuchten George und William am 13. Juni Präsident Abraham Lincoln. George hatte erwartet, den Präsidenten wegen des nun schon mehr als einem Jahr andauernden Bürgerkriegs erschöpft und gramgebeugt anzutreffen, doch Lincoln unterhielt sich angeregt mit ihnen und machte sogar Scherze. Er war ein großer, einfacher Mann mit bärtigem Gesicht und ungelenken Bewegungen. Er hörte höflich zu, als George und William die Gründe darlegten, weshalb Utah ein Bundesstaat werden sollte, versprach jedoch nicht, das Gesuch zu befürworten.32

George und William verließen das Weiße Haus enttäuscht. Das Treffen war genauso wie andere verlaufen, die sie mit Politikern in Washington gehabt hatten. Die meisten Abgeordneten schienen für die Aufnahme Utahs in den Staatenbund ein offenes Ohr zu haben, waren jedoch nicht bereit zu der Zusage, dass sie dafür stimmen würden. Einige waren der Ansicht, sie könnten sich nicht für die Aufnahme Utahs als Bundesstaat aussprechen, wenn sie gerade eben für das Gesetz gegen die Bigamie gestimmt hatten, und wollten daher dem Antrag erst dann zustimmen, wenn die Territorialverfassung die Mehrehe abgeschafft hatte.33

Zudem hielt die Empörung über das Massaker bei Mountain Meadows einige Abgeordnete davon ab, den Antrag der Heiligen auf die Aufnahme Utahs als Bundesstaat zu befürworten.34 Etwa ein Jahr nachdem John D. Lee seinen Bericht über das Massaker vorgelegt hatte, fanden Ermittlungsbeamte der Kirche heraus, dass er und weitere Mitglieder persönlich an dem Überfall beteiligt gewesen waren. Wenig später stellten Beamte der Regierung ihre eigenen Ermittlungen an. Sie wollten gegen John D. Lee, Isaac Haight, John Higbee und andere Anklage erheben, doch es meldeten sich keine Zeugen, die bereit gewesen wären, gegen die Männer auszusagen. Die Ermittler konnten jedoch im Sommer 1859 die elf Mädchen und sechs Jungen, die den Angriff überlebt hatten, ausfindig machen und zu Verwandten und Bekannten zurückbringen.35

George und William hofften, dass sie mit ihrem eifrigen Werben um Unterstützung für ihre Petition bei den Abgeordneten in Washington einen guten Eindruck machten. Dennoch konnten die beiden nicht sagen, ob ihre Bemühungen, Utahs Aufnahme in den Staatenbund zu sichern, von Erfolg gekrönt sein würden.36


Während in Washington das Gesuch um Eigenstaatlichkeit geprüft wurde, entwickelte sich die Missionsarbeit in Dänemark, Norwegen und Schweden ausgezeichnet. Mehr als zwei Jahre zuvor hatten Johan und Carl Dorius das Sanpete Valley verlassen, um abermals in Skandinavien eine Mission zu erfüllen. Die meiste Zeit über hatte Carl über die Mitglieder in Norwegen präsidiert und Johan war sein Erster Ratgeber gewesen.37

Als die Brüder in Skandinavien angekommen waren, war Johan sogleich nach Norwegen weitergereist. Carl jedoch hatte ihre Mutter, Ane Sophie, zu der die Brüder keinen Kontakt mehr hatten, in Kopenhagen besucht. Anfangs erkannte Ane Sophie ihren Sohn gar nicht. Sobald Carl ihr jedoch gesagt hatte, wer er sei, küsste sie ihn unablässig auf die Stirn – so überglücklich war sie, dass er aus Amerika zurückgekommen war. Wie ihr damaliger Ehemann Nicolai, Carls Vater, hatte auch sie erneut geheiratet. Sie und ihr Ehemann Hans Birch hatten ein Mädchen namens Julia adoptiert, das nun acht Jahre alt war.38

Als Carl und Ane Sophie nach drei Jahren zum ersten Mal wieder miteinander sprachen, staunte er über die Veränderung in ihrem Wesen. Bevor er und Johan nach Zion zogen, hatte sie sich geschämt, mit ihnen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Doch der Ruf der Kirche in Dänemark hatte sich seitdem gebessert und Ane Sophie erklärte sich am nächsten Tag bereit, nicht nur mit Carl auf die Straße zu gehen, sondern ihn auch zu einer Versammlung der Kirche zu begleiten.

Als Mutter und Sohn den Versammlungsraum betraten, war er zum Bersten voll. Carl sah viele Bekannte von seiner ersten Mission, und nachdem er zu der Gruppe gesprochen hatte, kamen viele auf ihn zu, schüttelten ihm die Hand und begrüßten ihn freudig.

An den folgenden Tagen wich Ane Sophie ihrem Sohn selten von der Seite. Nach einem Besuch beim Hauptsitz der Kirche in Dänemark schämte sich Carl ein wenig dafür, dass er noch immer denselben schäbigen Anzug trug, den er auch schon während seiner letzten Mission getragen hatte. Seine Mutter ging gleich mit ihm los, besorgte ihm einen neuen Anzug und kam dann auch mit, als er in der Stadt alte Bekannte besuchte. Während sie miteinander redeten, bemerkte Carl, dass seine Mutter mehr an der Kirche interessiert war als jemals zuvor.

Nach dem Besuch bei Ane Sophie reiste Carl zu Johan nach Norwegen. Die Brüder stellten fest, dass sich viele Zweige in Norwegen wegen der Auswanderung verkleinert hatten, dass sich aber immer noch rund sechshundert Mitglieder in Norwegen befanden, etwa zweihundertfünfzig davon in der Hauptstadt Christiania. In Norwegen herrschte nach wie vor keine Religionsfreiheit, und so mussten die Missionare vorsichtig sein, wenn sie in der Öffentlichkeit predigten und tauften.39

Zu Beginn des Jahres 1862 predigte Carl im Süden von Norwegen und wurde dabei mit zehn weiteren Missionaren von der Polizei verhaftet, die sie vor einer gaffenden Menge verhörte und ihnen Geld- und Haftstrafen androhte. Doch solche Schikanen brachten das Werk schwerlich zum Stillstand. Im Frühjahr bereiteten sich 1.556 Mitglieder aus Skandinavien auf die Ausreise nach Zion vor, die bisher größte Gruppe überhaupt.

Um diese Zeit kehrte Carl nach Kopenhagen zurück, um seine Mutter noch einmal zu besuchen. Ane Sophie war heiter und gelöst. Sie schien ernsthafter und immer noch an der Kirche interessiert zu sein. Erneut besuchte sie mit Carl die Versammlungen und nahm manchmal sogar Julia mit.

Im Juni 1862 nahm Carl seine Mutter und Julia auf einen Ausflug nach Christiania mit. Die Bitterkeit und die Vorurteile, die Ane Sophie einstmals gegen die Heiligen gehegt hatte, waren wie weggeblasen, und sie und Julia wollten sich von Carl taufen und konfirmieren lassen. Als diese heiligen Handlungen vollzogen waren, überschütteten die Mitglieder in Norwegen Ane Sophie mit Aufmerksamkeit, denn sie waren überglücklich, nun endlich die Mutter ihres Missionsleiters kennenzulernen.40


Am 20. Juli erhielt Elizabeth Cannon einen Brief von George. Seine Arbeit in Washington war nun beendet und er wollte mit einem der nächsten beiden Dampfschiffe nach Liverpool zurückkehren. Der Brief gab Elizabeth jedoch wenig Hoffnung, dass George das frühere Schiff noch erreichen könne. Aber sie freute sich darauf, ihn nun bald wiederzusehen, wann er auch ankommen mochte.

Am nächsten Tag ritt sie mit Georgiana zu einem Hügel, von dem aus man Liverpool sehen konnte, und schaute ihrer Tochter beim Spielen im Gras zu. Da sie ihre beiden kleinen Söhne John und Abraham in der Obhut einer Familie in Utah gelassen hatte, war sie dankbar, wenigstens Georgiana bei sich zu haben. „Sie ist mir während der Abwesenheit meines Mannes ein großer Trost“, schrieb sie am folgenden Tag in ihr Tagebuch. „Ohne sie wäre ich wohl ziemlich unzufrieden.“41

Sie konnte damals, als George auf seine erste Mission nach Kalifornien und Hawaii ging, ja nicht ahnen, wie sehr die beiden einander vermissen würden. Gottes Volk zu sammeln gehörte zu den wesentlichen Aufgaben der Kirche, aber den Frauen, die zurückblieben und sich um die Kinder kümmerten und für Haus und Hof sorgten, während der Mann auf Mission war, verlangte das oft psychisch und körperlich riesige Opfer ab. Elizabeth hatte das Glück gehabt, George auf einigen seiner Missionsreisen42 begleiten zu dürfen. Das war mehr, als so manch andere Frau eines Missionars von sich sagen konnte. Doch das machte die manchmal langen Trennungszeiten trotzdem nicht einfacher.

Einige Tage nachdem sie Georges Brief erhalten hatte, räumte Elizabeth gerade das Haus auf, während Georgiana mit Rosina Mathews spielte, einem englischen Mädchen, das die Cannons bei sich aufgenommen hatten. Als die Mädchen so spielten, warf Rosina einen Blick aus dem Fenster auf die Straße. „Da kommt Papa!“, trällerte sie.

„Da irrst du dich bestimmt“, sagte Elizabeth.

„Er ist in einer Droschke“, beharrte Rosina, „an der Tür.“

In diesem Moment hörte Elizabeth schon vertraute Schritte auf der Treppe. Als sie ihren Mann sah, hüpfte ihr das Herz vor Freude und die Stimme versagte ihr. Georgiana lief auf ihn zu, und er nahm sie in die Arme. Trotz der langen Reise sah er wohlbehalten aus, und er freute sich, dass Elizabeth kräftiger und gesünder war als bei seinem Fortgang.

Am Nachmittag machte die Familie einen Spaziergang. „Nach der langen Trennung haben wir die gemeinsame Zeit sehr genossen“, schrieb Elizabeth in ihr Tagebuch. „Wir waren wieder eine glückliche Familie.“43

All seinen Bemühungen zum Trotz war Georges Lobbyarbeit in Washington erfolglos geblieben. Präsident Lincoln unterzeichnete das Gesetz gegen die Bigamie am 8. Juli. Wenig später wurden George und William von Abgeordneten darüber informiert, dass der Kongress nun, da der Amerikanische Bürgerkrieg sich immer weiter verschärfte, Wichtigeres zu tun habe, als sich mit dem Gesuch Utahs um Eigenstaatlichkeit zu befassen.44

Da George nun wieder in Europa war, wollte er mit Elizabeth das Missionsgebiet bereisen. Im September verließen sie Liverpool in Begleitung von John Smith, dem Patriarchen der Kirche, der auf dem Weg zu einer Mission in Skandinavien gerade in England war. Unterwegs holten sie Johns Bruder Joseph F. Smith und seinen Cousin Samuel Smith ab, die seit 1860 in London auf Mission waren. Ein weiterer Cousin der Familie Smith, Jesse Smith, war Präsident der Skandinavischen Mission. Er hatte seine Cousins eingeladen, ihn nach Johns Ankunft zu besuchen.

Die Reisegesellschaft verließ England am 3. September und fuhr über Hamburg nach Dänemark weiter. Joseph und Samuel waren abgemagert und sahen überarbeitet und erschöpft aus, aber mit jedem Tag schien sich ihr Befinden zu bessern. Elizabeth fühlte sich in Dänemark etwas unbehaglich, da sie die Sprache nicht beherrschte. Dennoch genoss sie bei einer Konferenz in Aalborg die Gesellschaft der Heiligen.45

George und die anderen Missionare sprachen mithilfe eines Dolmetschers zu den Anwesenden. Anschließend versammelte sich die Gemeinde auf einem Hügel mit Blick auf die Stadt, um miteinander zu reden und Lieder zu singen. Die meisten Lieder waren auf Englisch oder Dänisch, aber George und Joseph unterhielten die Heiligen auch mit einigen hawaiianischen Liedern. Die Freude, die die Heiligen miteinander verband, war trotz der Unterschiede in Sprache und Herkunft spürbar und das genaue Gegenteil des Unfriedens, der die Vereinigten Staaten damals gerade heimsuchte.46

„Ich habe es wirklich sehr genossen, die Leute haben mir sehr gut gefallen“, schrieb Elizabeth an jenem Tag in ihr Tagebuch. „Ich konnte mich zwar selber nicht verständlich machen, aber wir waren dennoch im selben großen Werk vereint und verspürten denselben Geist.“47