Geschichte der Kirche
34 Von den Schlechten nichts zu befürchten


„Von den Schlechten nichts zu befürchten“, Kapitel 34 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 34: „Von den Schlechten nichts zu befürchten“

Kapitel 34

Von den Schlechten nichts zu befürchten

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Broschüre mit dem Titel „Warum wir in Mehrehe leben“

Am 8. März 1885 strahlte die Sonne, als Ida Udall erwachte. Es war ihr siebenundzwanzigster Geburtstag. So sehr sie sich auch über den warmen Tag am Ende des Winters freute – Ida musste sehr vorsichtig sein, wenn sie das Haus verließ. Die meisten Tage war sie gezwungen, bis zum Sonnenuntergang im Haus zu bleiben. Das Risiko war zu groß, von einem Marshal der Vereinigten Staaten erkannt zu werden.1

Seit ihrer Flucht aus St. Johns in Arizona waren acht Monate vergangen. Seitdem versteckte sie sich vor den Gesetzeshütern; sie war „untergetaucht“, wie die Heiligen das inzwischen nannten. Unterdessen war ihr Mann David gemeinsam mit fünf weiteren Heiligen wegen Polygamie angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Fast vierzig Männer hatten vor Gericht ausgesagt. Einige von ihnen hatten sogar einen Meineid gegen die Heiligen abgelegt. „Für Mormonen gelten in Arizona wohl weder Gesetz noch Gerechtigkeit“, hatte David Ida damals geschrieben.2

Am Ende des Prozesses wurden fünf der sechs Männer der Polygamie überführt. Drei von ihnen wurden zu dreieinhalb Jahren Haft in einem Gefängnis im über dreitausend Kilometer entfernten Detroit in Michigan verurteilt. David war als Einziger der Verurteilung entgangen, was aber nur daran lag, dass sich sein Fall um sechs Monate verzögert hatte, weil noch weitere Zeugen gesucht wurden, die gegen David aussagen sollten – darunter auch Ida.3

Nach ihrer Flucht aus Arizona war Ida zu Davids Vater und seiner Stiefmutter in Nephi gezogen, einer Ortschaft knapp hundertdreißig Kilometer südlich von Salt Lake City. Nur ihre nächsten Angehörigen und besten Freunde wussten, wo sie war.

Da Ida vorher noch nie viel Zeit mit ihren Schwiegereltern verbracht hatte, war es am Anfang für sie, als lebe sie bei Fremden. Mit der Zeit schloss sie sie jedoch ins Herz und fand Freunde unter den neuen Nachbarn. Dazu zählten auch einige Frauen aus Mehrehen, die zum Schutz ihrer Familie untergetaucht waren. Der Besuch von Versammlungen der Kirche und das Beisammensein mit Freunden waren ein Lichtblick in diesen langen, einsamen Tagen.4

Zu Idas Geburtstag veranstalteten ihre Freunde und Angehörigen ein Fest. Leider nur waren diejenigen, die ihr am liebsten waren – ihre Eltern, David und dessen erste Frau Ella –, allesamt hunderte Kilometer entfernt. Ida hatte David schon seit fast sechs Monaten nicht mehr gesehen. Sie vermisste ihn besonders schmerzlich, da ihr erstes gemeinsames Kind in ein paar Wochen zur Welt kommen sollte.5

Bald nach der Geburtstagsfeier erhielt Ida eine Zeitung aus Arizona. Als sie sie aufschlug, entdeckte sie eine Überschrift, die sie erschütterte. Ihre Mutter, Lois Pratt Hunt, war im Alter von nur achtundvierzig Jahren gestorben. Auf diesen Verlust war Ida nicht vorbereitet.

Ihre Freunde nahmen ihr behutsam die Zeitung aus der Hand und blieben den ganzen Tag bei ihr. Einige Stunden später setzten die Wehen ein, und Ida brachte ein gesundes Mädchen mit blauen Augen zur Welt, dem sie den Namen Pauline gab.

Die folgenden Wochen vergingen in einer Mischung aus Kummer und Freude, aber Ida war froh, dass sie Pauline hatte. „Ich wurde mit einer eigenen lieben kleinen Tochter gesegnet“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Ich danke Gott, dass ich nun einen Grund zu leben und zu arbeiten habe.“6


Im Frühjahr stieg Sagwitch mit seiner Frau Moyogah und sechzehn weiteren Schoschonen im Norden Utahs den Hügel hinauf, der zum Logan-Tempel führte.7 Ein Jahr zuvor war der Tempel fertiggestellt und geweiht worden – ein Beweis für den Glauben und die harte Arbeit der Heiligen im Norden Utahs und im Süden Idahos. Auch Sagwitch und andere Schoschonen waren unter denen gewesen, die unermüdlich am Bau des Tempels mitgearbeitet hatten.8

Die Schoschonen hatten eine weite Reise auf sich genommen, um zum Tempel zu kommen. Zwölf Jahre waren vergangen, seit sich Sagwitch und mehr als zweihundert weitere Schoschonen der Kirche angeschlossen hatten. Sie hatten eine eigene Gemeinde und hielten die Versammlungen in ihrer eigenen Sprache ab.9 Sagwitch und Moyogah waren im Endowment House gesiegelt worden,10 und Sagwitchs Sohn Frank Timbimboo Warner war als Missionar zu den Schoschonen berufen worden.11

Der Angriff der US-Armee auf das Lager des Stammes am Bear River lastete jedoch noch immer schwer auf den Überlebenden, und weitere Beschwernisse plagten sie nach wie vor. Nachdem sich Sagwitch und seine Gruppe der Kirche angeschlossen hatten, erhielten sie Land zur Bewirtschaftung im Süden Idahos, wo sie sich niederlassen konnten. Einige Monate nach Ankunft der Schoschonen breiteten sich jedoch unter den Einwohnern eines Nachbarortes, die nicht der Kirche angehörten, Befürchtungen aus, die weißen Heiligen würden die Indianer zum Angriff anstacheln. Sie bedrohten die Schoschonen und zwangen sie, ihr Land zu verlassen, gerade als diese mit der Ernte beginnen wollten. Die Schoschonen kehrten im folgenden Jahr zurück, aber Grashüpfer und streunendes Vieh fielen über die Felder her und fraßen das Getreide.12

Führer der Kirche wiesen den Schoschonen bald darauf auf Anweisung von Präsident John Taylor Land an der nördlichen Grenze von Utah zu.13 Inzwischen gab es in ihrem Dorf Washakie einige Häuser, eingezäunte Weiden, eine Schmiede, einen Genossenschaftsladen und ein Schulhaus.14

Ein neues Leben aufzubauen war schwierig, aber es hatte Sagwitch und seine Gruppe nicht davon abgehalten, beim Bau des Tempels mitzuhelfen. Obwohl sie nur wenig Zeit hatten, reisten Männer aus der Gruppe mit Gespannen und mit der Eisenbahn nach Logan, wo sie beim Transport der Steine halfen. Ein andermal bereiteten sie den Mörtel vor, der die Mauern des Tempels zusammenhielt, oder mischten den Putz für die Innenwände. Als der Tempel schließlich geweiht wurde, hatten die Schoschonen tausende Arbeitsstunden für den Bau des heiligen Gebäudes aufgewandt.15

Auch Sagwitch hatte sich daran beteiligt, obwohl er langsam alt wurde und seine Hand seit dem Massaker am Bear River völlig vernarbt war. Den Schoschonen stand die Erinnerung an das Gemetzel noch immer vor Augen. Viele Überlebende berechneten ihr Alter nach der Anzahl von Jahren, die seit dem grauenvollen Ereignis vergangen waren.16 Sie konnten die Eltern, Geschwister, Ehepartner, Kinder und Enkel, die sie verloren hatten, nicht vergessen.

Am Tag des Massakers hatte Sagwitch es nicht geschafft, die Soldaten davon abzuhalten, seine Leute umzubringen. Doch im Frühjahr 1885 verbrachte er mit anderen Schoschonen vier Tage im Tempel, wo sie die heiligen Handlungen für ihre verstorbenen Angehörigen vornahmen, darunter viele, die am Bear River ums Leben gekommen waren.17


Im Juni 1885 kamen Joseph Smith III. und sein Bruder Alexander ins Territorium Utah, um eine weitere Mission für die Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu erfüllen. Wie andere Missionare ihrer Kirche zuvor, wollten auch diese Brüder die Heiligen in Utah davon überzeugen, dass der Prophet Joseph Smith niemals in Mehrehe gelebt habe.18

Eine der Heiligen, die ihre Ankunft bemerkten, war Helen Whitney, die sechsundfünfzigjährige Tochter von Heber und Vilate Kimball. Helen wusste, was die Brüder verbreiten wollten. Sie hatte sogar einmal eine Broschüre mit dem Titel Die Mehrehe, wie sie vom Propheten Joseph verkündet wurde veröffentlicht, als Erwiderung auf die Behauptungen, die Joseph III. über seinen Vater aufstellte. Da sie selbst mit Joseph Smith als weitere Ehefrau verheiratet gewesen war, wusste sie aus erster Hand, dass der Prophet in Mehrehe gelebt hatte.19

Helen war erst vierzehn Jahre alt, als ihr Vater ihr den Grundsatz erklärte und sie fragte, ob sie sich an Joseph siegeln lassen würde. Zuerst hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt, und sie hatte mit Entrüstung reagiert. Als sie aber im Laufe des Tages darüber nachdachte, was sie tun sollte, wurde ihr klar, dass ihr Vater sie zu sehr liebte, als dass er ihr etwas beibringen würde, was dem Willen Gottes widersprach. Sie stimmte der Siegelung zu und war überzeugt, dass diese Vereinigung zu ihrer Erhöhung und der ihrer Familie beitragen würde und sie in alle Ewigkeit mit Joseph Smith verbunden sein würden.

Es war in fast jeder Hinsicht eine ungewöhnliche Vereinbarung. Helen war für eine Ehe noch jung, auch wenn damals in den Vereinigten Staaten manche Frauen in ihrem Alter schon heirateten. Wie einige andere von Josephs Frauen wurde sie nur für die Ewigkeit an den Propheten gesiegelt. Sie und Joseph hatten kaum gesellschaftlichen Kontakt, und es gab auch keinerlei Hinweise ihrerseits, dass sie eine intime Beziehung gehabt hätten. Sie lebte nach wie vor im Haus ihrer Eltern und hielt, wie andere Frauen in Nauvoo, die in Mehrehe lebten, ihre Siegelung geheim. Doch sie war in dem Alter, in dem einige junge Damen anfingen, mit jungen Männern auszugehen, was es ihr erschwerte, ihren Freundinnen zu erklären, warum sie manchen geselligen Zusammenkünften fernblieb.20

Nach dem Tod des Propheten hatte sie Horace Whitney, einen Sohn von Newel und Elizabeth Ann Whitney, geheiratet. Damals war Helen siebzehn und Horace zweiundzwanzig. Sie waren sehr verliebt. Am Tag ihrer Hochzeit gaben sie einander das Versprechen, dass sie den Rest ihres Lebens aneinander festhalten wollten und, wenn möglich, auch in der Ewigkeit. Aber am Altar im Nauvoo-Tempel wurden sie nur für dieses Leben getraut, da Helen ja schon für die Ewigkeit an Joseph Smith gesiegelt worden war.21

Nachdem sie sich in Utah niedergelassen hatten, heiratete Horace mit Helens Zustimmung Lucy Bloxham und Mary Cravath. Lucy starb schon kurze Zeit später, aber Mary und Helen wohnten einträchtig als Nachbarinnen nebeneinander und verstanden sich gut. Helen und Horace waren achtunddreißig Jahre glücklich miteinander verheiratet und bekamen elf Kinder.22 Horace starb am 22. November 1884, und Helen verbrachte nun etwas Zeit damit, für die Zeitungen Deseret News und Woman’s Exponent zu schreiben.23

Die Mehrehe war für Helen nie leicht gewesen, aber sie verteidigte sie dennoch energisch. „Ohne ein überwältigendes Zeugnis vom Herrn“, schrieb sie, „wäre ich wohl nicht imstande gewesen, mich dem auch nur eine Sekunde zu beugen.“

Einige Jahre nachdem sie Die Mehrehe, wie sie vom Propheten Joseph verkündet wurde geschrieben hatte, veröffentlichte Helen eine weitere Broschüre mit dem Titel Warum wir in Mehrehe leben. Darin ging es um häufig vorgebrachte Kritikpunkte. „Eine Sache, die zum Gebet inspiriert, die Selbstsucht aus dem Herzen vertreibt und die menschliche Regungen noch üppiger erblühen lässt, was dazu führt, dass man außerhalb seines eigenen kleinen Kreises noch mehr gütige Taten vollbringt, kann nichts Böses an sich haben“,24 erklärte sie ihren Lesern.

Auch wenn das Schreiben Helen manchmal erschöpfte, konnte sie mit den Einkünften daraus doch das Abonnement der Zeitung und andere Ausgaben bestreiten.25 In ihren Leitartikeln kritisierte sie die Verfolger der Kirche, die sich einerseits für Freiheit und Religionsfreiheit einsetzten und andererseits einen unbarmherzigen Feldzug gegen die Kirche führten. Ihre Worte machten anderen Heiligen Mut.

„Wenn dieses Volk seinen Teil dazu beiträgt, wird sich die Macht des Allmächtigen zu seinen Gunsten offenbaren“, versicherte sie im August 1885 ihren Lesern. „Wir haben von den Schlechten nichts zu befürchten.“26

Für Helen waren die Anstrengungen Josephs III., seinen Vater und den Grundsatz der Mehrehe auseinanderzudividieren, ein Angriff auf die Wahrheit.27 Eines Tages fuhr sie mit der Eisenbahn durch Utah, als ein Mann in ihren Wagen einstieg und direkt vor ihr Platz nahm. Er sah nicht wie ein Mitglied der Kirche aus, und Helen überlegte, ob er vielleicht ein Staatsbediensteter sei, der die Aufgabe hatte, die Gesetze gegen die Polygamie durchzusetzen. Erst nachdem der Fremde den Zug verlassen hatte, erfuhr Helen zu ihrer Überraschung, dass es sich um Joseph III. gehandelt hatte.

„Wenn ich ihn erkannt hätte“, schrieb sie in ihr Tagebuch, „hätte ich unerschrocken Kritik geübt und wäre geneigt gewesen, mich vorzustellen.“28

Auch wenn sie die längste Zeit ihres Lebens mit Horace verheiratet gewesen war, war ihr immer bewusst, dass sie an den Propheten Joseph Smith gesiegelt war. Wie sich diese Beziehungen im nächsten Leben gestalten würden, war ihr nicht ganz klar. Aber sie hatte die Absicht, alle ewigen Segnungen zu beanspruchen, die Gott ihrer Familie verheißen hatte. Gott hatte sie im Feuerofen der Bedrängnis stets bewahrt, und sie vertraute darauf, dass er alles zu einem guten Ende bringen würde.

„Ich habe längst gelernt, alles ihm zu überlassen, der besser weiß als wir selbst, was uns glücklich machen wird“, schrieb sie.29


Wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter war Ida Udall wieder unterwegs. Sie reiste unter einem Decknamen und verbrachte jeweils einige Wochen bei verschiedenen Freunden und Verwandten in Utah.30 Davids Gerichtsverhandlung war für August 1885 angesetzt. Da die Staatsanwälte nicht in der Lage gewesen waren, eine überzeugende Anklage wegen Polygamie gegen ihn vorzubringen, klagten sie ihn nun wegen eines angeblichen Meineids an, den ihm seine Feinde in St. Johns schon vor einiger Zeit vorgeworfen hatten.31

Ida und David hatten sich im Mai 1885 zum letzten Mal gesehen, zwei Monate nach Paulines Geburt. Danach hatte Ida einen Brief von David erhalten, in dem er sein Bedauern über alles, was sie wegen ihm ertragen musste, zum Ausdruck brachte.

„Es wäre besser, so denke ich manchmal, wenn ich im Gefängnis sitzen würde, als dass du unter falschem Namen von hier nach dort fliehen musst, aus Angst, erkannt zu werden“, schrieb er.32

Aber Ida hatte die Hoffnung, dass sich ihr Opfer lohnen würde, zumal viele davon ausgingen, dass man David freisprechen würde. Und so wartete sie auf Nachrichten aus Arizona und tröstete sich damit, Pauline zu umsorgen. Manchmal war das alles, was sie von der zermürbenden Ungewissheit ablenken konnte.33

Am 17. August kam die Nachricht, dass David wegen Meineids zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Ida war bestürzt, hoffte aber, dass sie nun wenigstens zu ihrer Familie in Arizona zurückkehren könne. Der Apostel George Teasdale riet ihr jedoch, sich weiterhin versteckt zu halten. Sollte David im Falle der fadenscheinigen Verurteilung wegen Meineids begnadigt werden, würden seine Feinde abermals versuchen, ihn der Polygamie zu überführen.

Ida befolgte den Rat des Apostels und kehrte nicht nach Arizona zurück.34 Aber von Tag zu Tag wuchs die Unruhe in ihr. Sie musste einfach erfahren, wie es David im Gefängnis erging. Er durfte nur einen Brief im Monat an seine Familie schreiben, sodass Ida darauf angewiesen war, dass Ella ihr Abschriften seiner Briefe schickte. Ella hatte jedoch ihre eigenen Sorgen, besonders nachdem ihr jüngstes Kind, Mary, im Oktober 1885 gestorben war.

Drei Monate lang erhielt Ida keine Briefe von David. Als endlich ein ganzes Bündel eintraf, stellte sie fest, dass er mittlerweile einen Decknamen für sie verwendete. Um sich nicht selbst zu belasten, nannte er sie nun beim Namen ihrer Mutter, Lois Pratt.35


Im Herbst berief Präsident Taylor, der sich südlich von Salt Lake City vor den Marshals versteckte, Jacob Gates auf eine weitere Mission nach Hawaii. Sechs Jahre waren vergangen, seit Jacob von seiner ersten Mission auf den Inseln zurückgekehrt war. In der Zwischenzeit hatte er Susie Young geheiratet, die nun Susa genannt wurde. Sie lebten in Provo, hatten drei gemeinsame Kinder und erwarteten ein weiteres. Bailey, Susas Sohn aus ihrer ersten Ehe, lebte ebenfalls bei ihnen. Ihre Tochter Leah lebte jedoch immer noch bei der Familie ihres Vaters im Norden Utahs.

Jacobs unerwartete Missionsberufung weckte in Susa viele Fragen und Sorgen. In dem Brief wurde Jacob gebeten, schon in drei Wochen nach Hawaii zu reisen, was ihm wenig Zeit ließ, seine geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. Auch wurde nicht erwähnt, ob er seine Familie mitnehmen konnte, wie es den Missionaren manchmal gestattet wurde.

Susa wollte ihn begleiten und die Kinder mitnehmen, aber sie hatte nicht viel Hoffnung. „So, wie das Schreiben klang, glaubt Jacob nicht, dass meine Begleitung erwünscht ist“, schrieb sie am nächsten Tag ihrer Mutter. „Da kannst du dir wohl vorstellen, wie die nächsten drei Jahre aussehen werden.“36

Jacob nahm die Missionsberufung sofort an, fragte aber bei Präsident Taylor nach, ob Susa und die Kinder mitkommen dürften. „Mir wäre es lieber, wenn sie mitkämen“, schrieb er ihm und wies darauf hin, dass Susa ja schon in Hawaii gewesen war und sich dort gut auskannte.37

Da nicht gleich eine Antwort kam, bereitete sich Susa darauf vor, Jacob alleine auf den Weg zu schicken. Sie erfuhr, dass drei weitere Missionare schon die Erlaubnis erhalten hatten, ihre Familie nach Laie mitzunehmen. Da es dort nur begrenzten Wohnraum gab, rechnete sie nicht damit, auch zu den Glücklichen zu gehören. Dann aber erhielt Jacob nur eine Woche vor der Abreise in einem Brief die Erlaubnis, seine Familie mitzunehmen.38

Susa und Jacob machten sich in aller Eile bereit. Unter anderem schrieben sie an Alma Dunsford, Susas geschiedenen Mann, und baten ihn, den zehnjährigen Bailey nach Hawaii mitnehmen zu dürfen. Anstelle einer schriftlichen Antwort wartete Alma, bis die Familie nach Hawaii aufbrach. Am Bahnhof von Salt Lake City trat er ihnen in Begleitung eines Hilfssheriffs entgegen und präsentierte eine gerichtliche Verfügung, die ihm das Recht gab, Bailey bei sich in Utah zu behalten.

Obwohl Bailey immer bei Susa gelebt hatte, konnte sie gegen den Gerichtsbeschluss nicht angehen und musste zusehen, wie Alma Bailey mitnahm. Susa war untröstlich, als sie von ihrem Sohn getrennt wurde, und der Junge versuchte schreiend, zu ihr zurückzulaufen.39

Wenig später segelten Susa und Jacob mit den übrigen Kindern nach Hawaii. Auf der Überfahrt war Susa krank und voll Kummer. Als das Schiff in Honolulu anlegte, wurden sie von Joseph F. Smith begrüßt, der dort im Exil lebte, um der Verhaftung zu entgehen. Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Laie, wo sie von einer großen Anzahl Heiliger mit einem Abendessen und einem Konzert begrüßt wurden.40

Bald schon gewöhnten sich Susa und Jacob an das Leben in Laie. Susa bewunderte die schöne Landschaft, die sie umgab, aber mit der Missionarsunterkunft, die von Ungeziefer befallen war, konnte sie sich schwerlich anfreunden. „Sollte ich mich jemals einsam fühlen“, schrieb sie in einem humorvollen Artikel für den Woman’s Exponent, „habe ich reichlich Gesellschaft von Mäusen, Ratten, Skorpionen, Tausendfüßlern, Kakerlaken, Flöhen, Mücken, Eidechsen und Millionen von Ameisen.“41

Die meiste Zeit hatte sie jedoch großes Heimweh nach Utah.42 Einige Monate nach ihrer Ankunft erhielt sie Post von Bailey. „Ich wünschte, du wärest hier“, schrieb er. „Ich denke an dich und bete für dich.“43

Susa tröstete sich mit dem Gedanken an diese Gebete.


Als John Taylor Anfang 1885 untertauchte, gesellte er sich zu George Q. Cannon, der sich bereits seit einigen Wochen versteckt hielt. Bislang hatten sie Zuflucht bei einigen treuen Heiligen in und um Salt Lake City gefunden. Sobald Nachbarn begannen, sich verdächtig zu verhalten, oder wenn John unruhig wurde, zogen sie weiter. Da ihnen die Marshals ständig auf den Fersen waren, durften sie nie unachtsam sein.44

Da sie nicht in der Lage waren, sich persönlich mit den Heiligen zu treffen, bemühten sich die Mitglieder der Ersten Präsidentschaft, alle Belange der Kirche brieflich abzuwickeln. Falls Probleme auftraten, die nicht auf diese Weise gelöst werden konnten, trafen sie sich heimlich mit anderen Führern der Kirche in Salt Lake City. Jede Fahrt in die Stadt war riskant. Kein Führer der Kirche, der in Mehrehe lebte, war sicher.45

Im November wurde der Apostel Lorenzo Snow, der einundsiebzig Jahre alt und in schlechter Verfassung war, von Marshals der Bundesregierung verhaftet.46 Vor seiner Verhaftung hatte Lorenzo beschlossen, nur bei einer seiner Familien zu wohnen, um die Anklage der rechtswidrigen Lebensgemeinschaft zu vermeiden. Aber einer der an dem Fall beteiligten Richter sagte, dass er gänzlich damit aufhören müsse, seinen Frauen ein Ehemann zu sein. „Ich würde lieber tausend Tode sterben“, hatte Lorenzo gesagt, „als mich von meinen Frauen loszusagen und diese heiligen Verpflichtungen zu verletzen.“47

Im Januar 1886 wurde Lorenzo wegen drei Fällen von rechtswidriger Lebensgemeinschaft zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Im folgenden Monat durchsuchten Marshal Elwin Ireland und einige Hilfssheriffs die Farm von George Q. Cannon und stellten seinen Angehörigen, die dort wohnten, eine Vorladung zu. Ireland setzte daraufhin fünfhundert Dollar Belohnung für die Ergreifung von George Q. Cannon aus.48

Als George von der Belohnung erfuhr, wusste er, dass er jetzt von einer Meute „menschlicher Bluthunde“ gejagt werden würde. Da er den Propheten nicht in Gefahr bringen wollte, fasste er den Entschluss, sich für eine Weile räumlich von John zu trennen. John stimmte zu und riet ihm, nach Mexiko zu gehen. Einige Tage später rasierte sich George den Bart ab und bestieg einen Zug in der Hoffnung, Utah unerkannt zu verlassen.49

Die Nachricht, dass er die Stadt verlassen hatte, verbreitete sich jedoch irgendwie, woraufhin ein Sheriff den Zug bestieg und George verhaftete. Anschließend erschien Marshal Ireland, um George zurück nach Salt Lake City zu eskortieren.

Während der Zug vor sich hin ratterte, näherte sich ein Mitglied der Kirche und flüsterte George zu, dass eine Gruppe von Heiligen plane, ihn zu retten, bevor der Zug die Stadt erreichte. George stand auf und ging zu der kleinen Plattform, die sich außen am Ende des Wagens befand. Dass jemand seinetwegen verhaftet oder gar getötet würde, wollte er nicht.

Er besah sich die Winterlandschaft und überlegte, ob er aus dem fahrenden Zug springen sollte. Die westliche Wüste war jedoch menschenleeres Gebiet. Sollte er im falschen Augenblick abspringen, könnte er kilometerweit von einer Siedlung entfernt landen. Dieses karge Land zu Fuß zu durchwandern, könnte tödlich enden, besonders für jemanden, der fast sechzig Jahre alt war.

Plötzlich ruckelte der Zug und George fiel hinaus. Er schlug mit dem Kopf und der linken Seite auf, während der Zug weiterfuhr und im kalten Grau verschwand.

Völlig benommen lag George auf dem gefrorenen Boden, während sich an seinem Kopf und in seinem Körper Schmerzen ausbreiteten. Seine Nase war gebrochen und stand schief. Er hatte eine bis zum Knochen reichende Platzwunde an der Augenbraue, und sein Gesicht und seine Kleidung waren blutüberströmt.

Mühsam stand George auf und stapfte langsam die Gleise entlang. Schon bald sah er einen Hilfssheriff auf sich zukommen. Marshal Ireland hatte sein Fehlen bemerkt und angeordnet, dass der Zug angehalten wurde. George hinkte dem Hilfssheriff entgegen, der ihn zu einer Ortschaft in der Nähe brachte.

Von dort sandte George ein Telegramm, in dem er darum bat, dass die Heiligen nichts gegen seine Festnahme unternehmen sollten. Er war nun in Gottes Hand.50