Generalkonferenz
Liebe deinen Nächsten
Herbst-Generalkonferenz 2023


Liebe deinen Nächsten

Mitgefühl ist eine Eigenschaft Christi – es erwächst aus Liebe zum Nächsten und kennt keine Grenzen

Heute Morgen möchte ich Sie auf eine Reise nach Afrika mitnehmen. Sie werden zwar weder Löwen noch Zebras oder gar Elefanten zu Gesicht bekommen, doch am Ende sehen Sie, wie tausende Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage dem zweiten wichtigen Gebot Christi Folge leisten, nämlich ihren Nächsten zu lieben (siehe Markus 12:31).

Stellen Sie sich einen Moment lang den roten Erdboden in einer ländlichen Gegend Afrikas vor. Der ausgetrocknete, karge Boden beweist, dass viel zu viele Jahre lang kaum Regen gefallen ist. Die wenigen Rinder, die Ihren Weg kreuzen, sind fast nur Haut und Knochen. Sie werden von einem in eine Decke eingewickelten Karamojong-Hirten gehütet, der sich in seinen Sandalen weiterschleppt in der Hoffnung, irgendwo Pflanzenwuchs und Wasser zu finden.

Während Sie die Schotterstraße entlangfahren, sehen Sie immer wieder Gruppen von freundlichen Kindern und fragen sich, warum sie nicht in der Schule sind. Die Kinder lächeln und winken, und Sie winken mit einer Träne im Auge und einem Lächeln zurück. 92 Prozent der Kleinen, die Sie unterwegs sehen, mangelt es an Nahrung, und das lässt Sie innnerlich vor Schmerz aufstöhnen.

Vor sich sehen Sie eine Mutter, die sorgsam einen Behälter mit knapp 20 Litern Wasser auf dem Kopf balanciert. Einen weiteren Behälter trägt sie in der Hand. In jedem zweiten Haushalt in der Gegend legen die Frauen, ob jung oder alt, Tag für Tag bei jedem Gang mehr als eine halbe Stunde Fußweg zurück, um Wasser für die Familie zu holen. Großer Kummer überkommt Sie.

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Afrikanerin beim Wasserholen

Zwei Stunden später erreichen Sie eine abgeschiedene, schattige Lichtung. Man trifft sich nicht in einer Halle oder zumindest einem Zelt, sondern unter einigen hohen Bäumen, die vor der sengenden Sonne schützen. Ihnen fällt auf, dass es hier kein fließendes Wasser, keinen Strom und kein Wasserklosett gibt. Sie sehen sich um und wissen, dass Sie sich inmitten eines Volkes befinden, das Gott liebt, und spüren sofort auch Gottes Liebe zu den Menschen. Die Leute sind hier, um Hilfe und Hoffnung zu erhalten. Und Sie sind da, um diese weiterzugeben.

So verlief die Reise von meiner Frau und mir, als wir zusammen mit Schwester Camille Johnson, der FHV-Präsidentin der Kirche, ihrem Mann Doug sowie Schwester Sharon Eubank, der Leiterin des Humanitären Dienstes der Kirche, Uganda besuchten, ein Land mit einer Bevölkerung von 47 Millionen Menschen, das kirchlich zum Gebiet Afrika Mitte gehört. Unter dem Schatten der Bäume fanden wir uns damals zu einem kommunalen Gesundheitsprojekt ein, das vom Humanitären Dienst der Kirche gemeinsam mit der UNICEF und dem Gesundheitsministerium der Regierung Ugandas finanziert wird. Diese vertrauenswürdigen Organisationen wurden sorgfältig ausgewählt, damit sichergestellt ist, dass die Spendengelder unserer Mitglieder für humanitäre Zwecke umsichtig genutzt werden.

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In Afrika wird ein Kind versorgt

Auch wenn es herzzerreißend war, unterernährte Kinder und die Auswirkungen von Tuberkulose, Malaria und unaufhörlichem Durchfall zu sehen, kam doch bei jedem von uns die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Menschen auf, die wir dort kennenlernten.

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Eine Mutter füttert ihr Kind

Diese Hoffnung entsprang zum Teil auch der Freundlichkeit von Mitgliedern der Kirche in aller Welt, die Zeit und Geld spenden, um den Humanitären Dienst der Kirche zu unterstützen. Als ich sah, wie Kranke und Bedrängte Hilfe und Hoffnung erhielten, senkte ich in Dankbarkeit den Kopf. In diesem Moment verstand ich besser, was der König der Könige gemeint hatte, als er sprach:

„Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das … für euch bestimmt ist!

Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25:34,35.)

Die Aufforderung unseres Erretters lautet ja: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Matthäus 5:16; siehe auch Vers 14,15.) In diesem weit entfernten Winkel der Erde haben Ihre guten Werke Licht ins Leben der Menschen gebracht und einem Volk in verzweifelter Not die Last erleichtert – und Gott wurde gepriesen.

Ich wünschte, Sie hätten an jenem heißen, staubigen Tag ihre Lob- und Dankgebete an Gott vernehmen können. Es wäre ihr Wunsch, dass ich Ihnen in ihrer Muttersprache Karamojong „Alakara“ sage. Danke!

Unsere Reise rief mir das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ins Gedächtnis. Seine Reise führte ihn eine staubige Straße entlang – ähnlich der, die ich eingangs geschildert habe, doch diesmal von Jerusalem nach Jericho. Der fürsorgliche Samariter führt uns vor Augen, was es bedeutet, unseren Nächsten zu lieben.

Er erblickte einen Mann, der von Räubern überfallen worden war. „Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.“ (Lukas 10:30.) Der Samariter „hatte Mitleid“ (Lukas 10:33).

Mitgefühl ist eine Eigenschaft Christi. Es erwächst aus Liebe zum Nächsten und kennt keine Grenzen. Jesus, der Erretter der Welt, ist der Inbegriff des Mitgefühls. Wenn wir lesen, dass Jesus weinte (siehe Johannes 11:35), sind wir wie Maria und Marta Zeugen seines Mitgefühls, welches ihn im Innersten erregte und erschütterte (siehe Johannes 11:33). Ein weiteres Beispiel für das Mitgefühl Christi finden wir im Buch Mormon, als Jesus nämlich der Menschenmenge erschien und sprach:

„Habt ihr welche, die lahm sind oder blind oder hinkend … oder die taub sind oder die in irgendeiner Weise bedrängt sind? Bringt sie her, und ich werde sie heilen, denn ich habe Mitleid mit euch …

Und er heilte sie, jeden Einzelnen.“ (3 Nephi 17:7,9.)

Trotz all unserer Anstrengung können Sie und ich nicht jeden heilen. Doch jeder von uns kann wenigstens das Leben eines anderen Menschen nachhaltig verbessern. Es war nur ein einfacher, kleiner Junge, der fünf Brote und zwei Fische spendete, die letzten Endes Fünftausend speisten. Wie der Jünger Andreas angesichts jener Brote und Fische können auch wir angesichts unserer Spende die Frage stellen: „Was ist das für so viele?“ (Johannes 6:9.) Ich versichere Ihnen: Es ist genug, wenn Sie geben oder tun, was Sie können, und Christus erlauben, Ihre Gabe zu vervielfachen.

Gleichermaßen hat Elder Jeffrey R. Holland uns aufgefordert: „Ob reich oder arm – [wir müssen tun], ‚was wir können‘, wenn andere bedrängt sind.“ Dann bezeugte er – und dem schließe ich mich an –, dass Gott „Ihnen helfen und Sie darin anleiten [wird], ein mitfühlender Jünger zu sein“ („Sind wir nicht alle Bettler?“, Liahona, November 2014, Seite 41).

In jenem fernen Land war ich an diesem unvergesslichen Tag Zeuge – und bin es auch jetzt – des zutiefst bewegenden Mitgefühls der Mitglieder der Kirche, ob reich, ob arm, und dessen lebensverändernder Kraft.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird weiter berichtet, dass er die Wunden des Mannes verband und für ihn sorgte (siehe Lukas 10:34). Mit ihren humanitären Bemühungen kann unsere Kirche rasch auf Naturkatastrophen reagieren und die immer größer werdenden Wunden der Welt wie Krankheit, Hunger, Säuglingssterblichkeit, Unterernährung, Vertreibung sowie häufig übersehene Wunden wie etwa Enttäuschung, Verzweiflung und Depression verbinden.

Der Samariter holte dann „zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn“ (Lukas 10:35). Als Kirche sind wir dankbar für unsere Zusammenarbeit mit weiteren „Wirten“, Organisationen wie dem Katholischen Hilfswerk, der UNICEF und dem Roten Kreuz/Roten Halbmond, die bei der humanitären Arbeit mit uns Seite an Seite stehen. Ebenso sind wir dankbar für Ihre „zwei Denare“ – zwei Euros, zwei Pesos oder zwei Schillinge –, die die Last leichter machen, die zu viele Menschen auf der Welt zu tragen haben. Wahrscheinlich lernen Sie die Nutznießer Ihrer Zeit und Ihres Geldes niemals kennen. Doch Mitgefühl erfordert nicht, dass wir sie kennen, sondern bloß, dass wir sie lieben.

Danke, Präsident Russell M. Nelson, dass Sie uns daran erinnern: „Wenn wir Gott von ganzem Herzen lieben, wendet er unser Herz dem Wohlergehen anderer zu.“ („Das zweite große Gebot“, Liahona, November 2019, Seite 97.) Ich bezeuge, dass jeder von uns an Freude, Frieden, Demut und Liebe zunimmt, wenn wir dem Aufruf Präsident Nelsons folgen, unser Herz dem Wohlergehen anderer zuzuwenden, und auch der Aufforderung Joseph Smiths folgen und „die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden, für die Witwen sorgen, die Tränen der Waisen trocknen [und] die Bedrängten trösten, wo auch immer [wir] sie finde[n] – ob in dieser Kirche, irgendeiner anderen oder in überhaupt keiner Kirche“ („Editorʼs Reply to a Letter from Richard Savary“, Times and Seasons, 15. März 1842, Seite 732; siehe auch Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph Smith, Seite 474).

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Elder Ardern und Präsidentin Camille N.<nb/>Johnson mit afrikanischen Kindern

Vor all diesen Monaten fanden wir die Hungrigen und Bedrängten auf einer trockenen, staubigen Ebene vor und erlebten, wie sie uns mit ihren Augen um Hilfe anflehten. Auf seine Weise war auch jeder von uns im Innersten erregt und erschüttert (siehe Johannes 11:33). Doch diese Gefühle entspannten sich, als wir das Mitgefühl der Mitglieder der Kirche in Aktion sahen und mitbekamen, wie Hungrige gespeist, Witwen versorgt, Bedrängte getröstet und Tränen getrocknet wurden.

Möge uns das Wohlergehen unseres Nächsten stets am Herzen liegen und mögen wir in Wort und Tat beweisen, dass wir „willens [sind], des anderen Last zu tragen“ (Mosia 18:8), „um die, die zerbrochenen Herzens sind, zu verbinden“ (Lehre und Bündnisse 138:42) und das zweitwichtigste Gebot Christi zu halten, nämlich unseren Nächsten zu lieben (siehe Markus 12:31). Im Namen Jesu Christi. Amen.