Generalkonferenz
Wir sind Gottes Kinder
Herbst-Generalkonferenz 2023


Wir sind Gottes Kinder

Wir haben denselben göttlichen Ursprung und durch die Gnade Jesu Christi das gleiche grenzenlose Potenzial

Wissen Sie noch, was der Prophet Samuel erlebte, als der Herr ihn zu Isais Haus sandte, um den neuen König Israels zu salben? Samuel erblickte Eliab, Isais Erstgeborenen. Eliab war offenbar groß und sah aus, als könne er Menschen gut führen. Samuel nahm dies wahr und zog einen voreiligen Schluss, welcher sich als Fehlschluss erwies, denn der Herr lies Samuel wissen: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt … Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“1

Wissen Sie noch, was der Jünger Hananias erlebte, als der Herr ihn zu Saulus sandte, um diesem einen Segen zu spenden? Saulusʼ Ruf war ihm vorausgeeilt – Hananias hatte von ihm gehört und davon, wie grausam und unerbittlich er die Heiligen verfolgte. Auf das Gehörte hin zog Hananias den voreiligen Schluss, er solle sich wohl besser nicht um Saulus kümmern. Das erwies sich als Fehlschluss, denn der Herr ließ Hananias wissen: „Dieser Mann ist mir ein auserwähltes Werkzeug: Er soll meinen Namen vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen.“2

Worin bestand in diesen beiden Beispielen mit Samuel und Hananias das Problem? Sie sahen mit den Augen und hörten mit den Ohren und deshalb urteilten sie, basierend auf Äußerlichkeiten und Hörensagen, vorschnell über andere.

Als die Schriftgelehrten und die Pharisäer die Frau sahen, die beim Ehebruch ertappt worden war, was sahen sie da? Eine sittlich verdorbene Frau, eine Sünderin, die den Tod verdient hatte. Als Jesus sie sah, was sah er da? Eine Frau, die zeitweilig der Schwäche des Fleisches nachgegeben hatte, jedoch durch Umkehr und sein Sühnopfer wieder zurückgewonnen werden konnte. Als die Leute den Hauptmann sahen, dessen Diener gelähmt war, was sahen sie da? Vielleicht sahen sie einen Eindringling, einen Ausländer, jemand, den man verachten musste. Als Jesus ihn sah, was sah er da? Einen Mann, der sich um das Wohlbefinden eines Haushaltsmitglieds sorgte und den Herrn aufrichtig und glaubensvoll aufsuchte. Als die Leute die Frau sahen, die an Blutfluss litt, was sahen sie da? Vielleicht eine Unreine, eine Ausgestoßene, die man meiden musste. Als Jesus sie sah, was sah er da? Eine Kranke, einsam und isoliert durch Umstände außerhalb ihrer Einflussnahme, die hoffte, geheilt zu werden und wieder zur Gesellschaft dazuzugehören.

In jeder dieser Begebenheiten sah der Herr die Menschen so, wie sie wirklich waren, und kümmerte sich dementsprechend um jeden einzelnen. Auch Nephi und sein Bruder Jakob verkündeten:

„Er lädt sie alle ein, zu ihm zu kommen[,] ob schwarz oder weiß, geknechtet oder frei, männlich oder weiblich; und er gedenkt der Heiden; und alle sind vor Gott gleich.“3

„Das eine Geschöpf ist in seinen Augen ebenso kostbar wie das andere.“4

Mögen auch wir uns nicht von unseren Augen, unseren Ohren oder unseren Ängsten irreleiten lassen, sondern uns mit offenem Herzen und unvoreingenommen unserer Mitmenschen gern annehmen, so wie Jesus es getan hat.

Vor einigen Jahren erhielt meine Frau Isabelle einen ungewöhnlichen Betreuungsauftrag. Man bat sie, eine ältere Witwe aus unserer Gemeinde zu besuchen. Gesundheitliche Probleme machten dieser Schwester zu schaffen, und durch Einsamkeit war sie verbittert. Ihre Vorhänge waren zugezogen und die Wohnung war stickig. Sie wollte keinen Besuch und stellte klar: „Ich kann sowieso nichts für irgendjemanden tun.“ Isabelle ließ sich davon nicht abschrecken und erwiderte: „O doch! Sie können für uns etwas tun, indem Sie uns gestatten, Sie zu besuchen.“ Und dies tat Isabelle dann zuverlässig.

Einige Zeit später wurde diese gute Schwester an den Füßen operiert. Die Verbände mussten jeden Tag gewechselt werden, was sie allerdings nicht allein schaffte. Tag um Tag ging Isabelle zu ihr nach Hause, wusch ihr die Füße und wechselte die Verbände. Sie sah nie Hässlichkeit und empfand den Geruch nie als Gestank. Sie sah immer nur eine schöne Tochter Gottes, die Liebe und behutsame Pflege brauchte.

Über die Jahre hinweg war Isabelles Gabe, zu sehen, wie der Herr sieht, für mich und zahllose andere ein Segen. Ob Sie nun Pfahlpräsident sind oder Leute in der Gemeinde willkommen heißen, ob Sie der König von England sind oder in einer Bretterbude hausen, ob Sie Isabelles Sprache sprechen oder eine andere, ob Sie alle Gebote halten oder sich mit manchen schwertun – sie serviert Ihnen ihr allerschönstes Gericht auf ihrem allerschönsten Teller. Lebensstandard, Hautfarbe, kultureller Hintergrund, Staatsangehörigkeit, Grad der Rechtschaffenheit, sozialer Status und jedwede andere Bezeichnung oder Schublade sind für sie unbedeutend. Sie sieht mit dem Herzen. Sie sieht in jedem das Kind Gottes.

Präsident Russell M. Nelson hat gesagt:

„Der Widersacher freut sich an diesen Schubladen, denn sie führen zu Spaltungen und schränken ein, was wir von uns selbst und von anderen halten. Es ist traurig, wenn wir solches Schubladendenken wichtiger nehmen als unseren Nächsten.

Etiketten können zu Verurteilung und Anfeindungen führen. Missachtung und Vorurteile einem anderen gegenüber aufgrund dessen Nationalität, Ethnie, sexueller Orientierung, Geschlecht, Bildung, Kultur oder sonst einem wesentlichen Merkmal sind unserem Schöpfer ein Gräuel!“5

Franzose zu sein definiert mich nicht – dort wurde ich eben geboren. Weiß zu sein definiert mich nicht – das ist eben meine Hautfarbe oder das, was ihr an Farbe fehlt. Professor zu sein definiert mich nicht – als solcher habe ich eben gearbeitet, um meine Familie zu versorgen. Generalautorität-Siebziger zu sein definiert mich nicht – als solcher versehe ich eben gerade meinen Dienst im Reich Gottes.

In erster Linie bin ich, wie Präsident Nelson uns vor Augen geführt hat, „ein Kind Gottes“6. Und Sie sind es auch, wie auch all unsere Mitmenschen. Mögen wir diese wundervolle Wahrheit mehr zu schätzen wissen. Das ändert alles!

Wir sind vielleicht in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen, wir kommen vielleicht aus unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnissen. Unsere irdische Herkunft, darunter Nationalität, Hautfarbe, bevorzugte Ernährungsform, politische Ausrichtung und so weiter, mag sich stark von der anderer unterscheiden. Aber wir sind Gottes Kinder – wir alle, ohne Ausnahme. Wir haben denselben göttlichen Ursprung und durch die Gnade Jesu Christi das gleiche grenzenlose Potenzial.

C. S. Lewis hat dies so ausgedrückt: „Es ist eine ernste Angelegenheit, in einer Welt von möglichen Göttern und Göttinnen zu leben und sich ständig vor Augen zu halten, dass auch der langweiligste und uninteressanteste Mensch, mit dem wir hier zu tun haben, eines Tages ein Geschöpf sein könnte, das wir, wenn wir es jetzt schon wüssten, ernsthaft versucht wären zu verehren. … Es gibt keine gewöhnlichen Menschen. Wir haben nie mit bloßen Sterblichen gesprochen. Nationen, Kulturen, Künste, Zivilisation – all dies ist sterblich, und ihr Leben ist für uns wie das einer Mücke. Aber es sind Unsterbliche, mit denen wir scherzen, arbeiten, verheiratet sind, die wir kurz abfertigen und ausnutzen.“7

Unserer Familie war es vergönnt, in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen zu leben; unsere Kinder haben die schöne Chance wahrnehmen können, jemanden anderer ethnischer Herkunft zu heiraten. Mir ist klargeworden, dass das Evangelium Jesu Christi alle Ungleichheit hervorragend ausgleicht. Wenn wir das Evangelium ganz und gar annehmen, bezeugt „der Geist selber … unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“8. Diese erstaunliche Wahrheit befreit uns, und alle Schubladen und Abgrenzungen, die uns und unsere Beziehungen untereinander einfach nur belasten würden, sind schlicht in „Christus verschlungen“9. Schnell wird dann klar, dass wir – und andere – „nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“10 sind.

Erst kürzlich hörte ich, wie der Zweigpräsident einer unserer multikulturellen, von der Landessprache abweichenden Einheiten dies, so wie Elder Gerrit W. Gong, als Zugehörigkeit durch Bündnisse11 bezeichnet hat. Was für ein schöner Gedanke! Wir gehören zu einer Gruppe Menschen, die alle versuchen, den Erretter und ihre Bündnisse in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen und voller Freude das Evangelium zu leben. Statt uns daher gegenseitig durch die Zerrlinse der Endlichkeit anzusehen, hebt das Evangelium unseren Blick und lässt uns einander durch die makellose, unveränderliche Linse unserer heiligen Bündnisse betrachten. Dadurch beginnen wir, unsere eigenen, natürlichen Vorurteile und die Voreingenommenheit anderen gegenüber abzubauen, was es diesen wiederum ermöglicht, ihre Vorurteile und ihre Voreingenommenheit uns gegenüber zu vermindern12 – ein wundervoller Kreislauf der Rechtschaffenheit! Tatsächlich folgen wir damit der Aufforderung unseres Propheten: „Meine lieben Brüder und Schwestern, es spielt wirklich eine große Rolle, wie wir miteinander umgehen! Es spielt eine Rolle, wie wir zuhause, in der Kirche, bei der Arbeit und im Internet mit anderen und über andere sprechen. Heute bitte ich darum, dass wir mit anderen auf eine höhere, heiligere Weise umgehen.“13

Im Sinne dieser Aufforderung möchte ich heute Nachmittag gleichsam unseren wundervollen PV-Kindern Folgendes versprechen:

Kannst du nicht wie die anderen gehn,

lässt man dich oft alleine stehn;

doch ich nicht, ich nicht!

Sprichst du nicht wie die anderen hier,

treibt jemand seinen Spott mit dir;

doch ich nicht, ich nicht!

Ich geh mit dir, ich red mit dir;

so zeig ich meine Liebe dir.

Jesus half, wo Not er sah,

war liebevoll für alle da.

Auch ich tu’s, ich tu’s!14

Ich bezeuge, dass der, den wir als Vater im Himmel ansprechen, wirklich unser Vater ist, dass er uns liebt, dass er jedes seiner Kinder ganz genau kennt, dass er sich zutiefst um jedes einzelne sorgt und dass wir in seinen Augen wahrhaftig alle gleich sind. Ich bezeuge: Wie wir miteinander umgehen, spiegelt unmittelbar wider, ob und wie wir das große Sühnopfer seines Sohnes, unseres Erretters Jesus Christus, verstehen und zu würdigen wissen. Mögen wir, so wie er, unsere Mitmenschen deshalb lieben, weil es das Richtige ist, und nicht, weil sie das Richtige tun oder in die „richtige Schablone“ passen. Im Namen Jesu Christi. Amen.