Generalkonferenz
Der verlorene Sohn und der Weg nach Hause
Herbst-Generalkonferenz 2023


Der verlorene Sohn und der Weg nach Hause

Auch wenn Ihre Entscheidungen Sie weit weg vom Erretter und seiner Kirche geführt haben mögen – der größte aller Heiler steht am Weg, der nach Hause führt, und heißt Sie willkommen

Ein Mann hatte zwei Söhne

Einige nennen es die beste Kurzgeschichte, die je erzählt wurde.1 Da diese Geschichte in tausende Sprachen auf der ganzen Welt übersetzt wurde, ist es durchaus möglich, dass die Sonne in den vergangenen zwei Jahrtausenden nicht untergegangen ist, ohne dass sie irgendwo auf der Welt erwähnt wurde.

Sie wurde von Jesus Christus, unserem Erretter und Erlöser, erzählt, der auf die Erde kam, um „zu retten, was verloren ist“2. Er leitet sie mit diesen einfachen Worten ein: „Ein Mann hatte zwei Söhne.“3

Sofort erfahren wir von einem herzzerreißenden Konflikt. Ein Sohn4 sagt seinem Vater, dass er von zuhause weg will. Er braucht seine Freiheit. Er möchte seine Eltern und deren Einfluss hinter sich lassen. Er bittet um sein Erbteil – und zwar sofort.5

Können Sie sich vorstellen, wie dem Vater zumute war, als er das hörte? Als ihm klar wurde, dass sein Sohn sich mehr als alles andere wünschte, die Familie zu verlassen und vielleicht nie zurückzukommen?

Das große Abenteuer

Der Sohn muss Abenteuerlust und Begeisterung empfunden haben. Endlich stand er auf eigenen Füßen! Frei von den Grundsätzen und Regeln, die seine Jugend geprägt hatten, konnte er endlich eigene Entscheidungen treffen, ohne von seinen Eltern beeinflusst zu werden. Kein schlechtes Gewissen mehr. Er konnte sich mit Gleichgesinnten sein Leben nach eigenen Regeln gestalten.

Er kam in einem fernen Land an, fand schnell neue Freunde und begann so zu leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Er muss sehr beliebt gewesen sein, denn er gab mit vollen Händen sein Geld aus. Seine Freunde – alle Nutznießer seiner Verschwendungssucht – kritisierten ihn nicht. Sie feierten und verteidigten seine Entscheidungen und applaudierten ihm.6

Hätte es damals schon soziale Medien gegeben, dann hätte er sicherlich Seiten mit animierten Fotos von lachenden Freunden gefüllt: (Hashtag)#Besserlebengehtnicht! #Glücklichwienie! #Hätteichschonehermachensollen!

Die Hungersnot

Aber wie jede Party war auch seine irgendwann vorbei. Zweierlei geschah: Erst ging ihm das Geld aus, und dann fegte eine Hungersnot durch das Land.7

Als die Probleme zunahmen, bekam er es mit der Angst zu tun. Der einst endlos feiernde Verschwender konnte sich nun keine einzige Mahlzeit leisten, geschweige denn eine Bleibe. Wie sollte er durchkommen?

Er war seinen Freunden gegenüber großzügig gewesen – würden sie ihm jetzt helfen? Ich kann mir vorstellen, wie er zögerlich um Unterstützung bat – nur vorübergehend, bis er wieder auf die Beine kam.

Die Schriften verraten uns, dass ihm niemand etwas abgab.8

Um sein Überleben ringend, fand er einen Bauern, der ihn als Schweinehirten anstellte.9

Ausgehungert, verlassen und allein muss der junge Mann sich nun gefragt haben, wie alles nur so schrecklich und furchtbar hatte schiefgehen können.

Es war nicht nur sein leerer Magen, der ihm Sorgen machte. Es war auch seine leere Seele. Er war sich so sicher gewesen, dass es ihn glücklich machen würde, wenn er seinen weltlichen Wünschen nachgab, und dass moralische Prinzipien nur im Weg standen. Jetzt wusste er es besser. Aber welch hohen Preis hatte er für diese Erkenntnis zahlen müssen!10

Als der körperliche und der geistige Hunger größer wurden, kehrten seine Gedanken zu seinem Vater zurück. Würde er ihm helfen, nach allem, was geschehen war? Selbst die niedrigsten Diener seines Vaters hatten Essen und Obdach, das sie vor den Stürmen schützte.

Aber zu seinem Vater zurückkehren?

Niemals!

Vor seinem Dorf eingestehen, dass er sein Erbe vergeudet hatte?

Unmöglich!

Den Nachbarn gegenübertreten, die ihn bestimmt gewarnt hatten, dass er Schande über seine Familie brachte und seinen Eltern das Herz brach? Zu seinen alten Freunden zurückkehren, nachdem er damit geprahlt hatte, wie frei er nun war?

Unerträglich!

Aber der Hunger, die Einsamkeit und die Reue blieben unerbittlich – bis er in sich ging.11

Er wusste nun, was zu tun war.

Die Rückkehr

Was mochte inzwischen mit dem guten Vater geschehen sein, dem tieftraurigen Herrn des Hauses? Wie viele hundert, vielleicht tausende Stunden hatte er damit zugebracht, sich um seinen Sohn zu sorgen?

Wie oft hatte er einen Blick auf die Straße geworfen, auf der sein Sohn seinerzeit weggegangen war, wie oft hatte er den Schmerz und tiefen Kummer erneut durchlebt? Wie viele Gebete hatte er mitten in der Nacht gesprochen und Gott angefleht, seinen Sohn zu beschützen, ihn die Wahrheit finden zu lassen und schließlich in die Familie zurückzuführen?

Und dann, eines Tages, sieht der Vater auf dieser einsamen Straße – dem Weg nach Hause – jemanden auf sich zukommen.

Ist es möglich?

Die Gestalt ist noch weit weg, und doch weiß der Vater augenblicklich, dass es sich um seinen Sohn handelt.

Er läuft zu ihm, fällt ihm um den Hals und küsst ihn.12

„Vater“, ruft der Sohn aus mit Worten, die er tausendmal geprobt haben muss: „Ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.“13

Doch der Vater lässt ihn nicht zu Ende reden. Mit Tränen in den Augen ruft er seinen Dienern zu: „Holt das beste Gewand aus dem Haus und legt es meinem Sohn um die Schultern. Steckt einen Ring an seine Hand und gebt ihm Sandalen an die Füße! Richtet ein Festmahl an, damit wir feiern können. Mein Sohn ist zurückgekehrt!“14

Das Fest

In meinem Büro hängt ein Gemälde des deutschen Künstlers Richard Burde. Meine Frau und ich mögen es sehr. Es zeigt einen rührenden Moment aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn in einer erweiterten Perspektive.

Bild
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, Darstellung von Richard Burde

Alle sind überglücklich über die Rückkehr des Sohnes bis auf einen: seinen älteren Bruder.15

Dieser trägt emotionalen Ballast mit sich herum.

Er war dabei gewesen, als sein Bruder sein Erbteil verlangte. Er hatte aus erster Hand miterlebt, wie sehr der Kummer seinen Vater niedergedrückt hatte.

Seit dem Augenblick, da sein Bruder gegangen war, hatte er versucht, seinem Vater die Last leicht zu machen. Jeden Tag hatte er sich bemüht, das gebrochene Herz seines Vaters wieder heil zu machen.

Und nun ist das rebellische Kind wieder da, und die Leute können von seinem treulosen Bruder gar nicht genug bekommen.

„All die Jahre“, sagt er zu seinem Vater, „habe ich alles gewissenhaft ausgeführt, was du mir aufgetragen hast. Und doch hast du in dieser ganzen Zeit nie ein Fest für mich gegeben.“16

Der liebevolle Vater erwidert: „Lieber Sohn, alles, was ich habe, gehört dir! Hier geht es nicht darum, Belohnungen oder Feierlichkeiten gegeneinander aufzuwiegen. Es geht um Heilung. Gemeinsam haben wir auf diesen glücklichen Tag gehofft, und jetzt wollen wir feiern. Dein Bruder war tot und ist ins Leben zurückgekommen! Er war verloren, aber jetzt ist er wiedergefunden worden.“17

Ein Gleichnis für unsere Zeit

Meine lieben Brüder und Schwestern, liebe Freunde, wie alle Gleichnisse des Erretters geht es in diesem nicht nur um Menschen, die vor langer Zeit gelebt haben. Es betrifft uns alle, die wir heute leben.

Sind wir nicht alle schon einmal vom Pfad der Heiligkeit abgewichen in der törichten Annahme, wir könnten mehr Glück finden, wenn wir unseren eigenen ichbezogenen Weg gingen?

Wer von uns hat sich noch nie demütig, reuig und verzweifelt nach Vergebung und Barmherzigkeit gesehnt?

Vielleicht haben einige sich sogar gefragt: Kann ich überhaupt zurück? Werde ich für immer gebrandmarkt, abgelehnt und von meinen früheren Freunden gemieden? Ist es besser, einfach verloren zu bleiben? Wie reagiert Gott, wenn ich zurückkehren möchte?

Dieses Gleichnis gibt uns die Antwort.

Unser Vater im Himmel wird zu uns laufen, weil ihm das Herz übergeht vor Liebe und Mitgefühl. Er wird uns umarmen, uns ein Gewand um die Schultern legen, einen Ring an die Hand stecken, Sandalen an die Füße ziehen und verkünden: „Heute feiern wir! Denn mein Kind, das einst tot war, ist ins Leben zurückgekommen!“

Der Himmel wird über unsere Rückkehr jubeln.

In unaussprechlicher und von Herrlichkeit erfüllter Freude

Darf ich jetzt einen Augenblick zu Ihnen allen ganz persönlich sprechen?

Was auch immer in Ihrem Leben geschehen sein mag, ich wiederhole und bekräftige die Worte meines lieben Freundes und Mitapostels Elder Jeffrey R. Holland: „Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch so tief sinkt, dass die Lichtstrahlen des unbegrenzten Sühnopfers Christi ihn nicht zu erreichen vermögen.“18

Auch wenn Ihre Entscheidungen Sie weit weg vom Erretter und seiner Kirche geführt haben mögen – der größte aller Heiler steht am Weg, der nach Hause führt, und heißt Sie willkommen. Und wir, als Mitglieder der Kirche Jesu Christi, möchten seinem Beispiel folgen und Sie als unsere Brüder und Schwestern, als unsere Freunde herzlich begrüßen. Wir freuen uns mit Ihnen und feiern mit Ihnen.

Ihre Rückkehr wird die Segnungen anderer nicht schmälern. Die Großzügigkeit des Vaters ist nämlich unbegrenzt, und so schmälert das, was einem gegeben wird, nicht im Geringsten das Geburtsrecht anderer.19

Ich behaupte nicht, dass es einfach sei, zurückzukommen. Das kann ich bezeugen. Es mag sogar die schwerste Entscheidung sein, die Sie je zu treffen haben.

Aber ich gebe Zeugnis, dass die Macht unseres Erretters und Erlösers in Ihr Leben einziehen und es wandeln wird, sobald Sie beschließen, zurückzukehren und auf seinem Weg zu gehen.20

Engel im Himmel werden sich freuen.

Und auch wir werden uns freuen, Ihre Familie in Christus. Schließlich wissen wir alle, wie es ist, vom Weg abgekommen zu sein. Wir alle verlassen uns täglich auf dieselbe sühnende Macht Christi. Wir kennen diesen Weg, und wir werden ihn gemeinsam mit Ihnen beschreiten.

Nein, unser Weg ist nicht frei von Kummer, Sorgen oder Traurigkeit. Aber wir sind so weit gekommen „durch das Wort von Christus, mit unerschütterlichem Glauben an ihn, [uns] ganz auf die Verdienste dessen [verlassend], der mächtig ist zu erretten“. Und gemeinsam werden wir „mit Beständigkeit in Christus vorwärtsstreben, erfüllt vom vollkommenen Glanz der Hoffnung und von Liebe zu Gott und zu allen Menschen“21. Gemeinsam werden wir „in unaussprechlicher und von Herrlichkeit erfüllter Freude“22 jubeln, denn Jesus Christus ist unsere Kraft!23

Ich bete dafür, dass wir alle in diesem hoffnungsreichen Gleichnis die Stimme des Vaters erkennen, der uns nach Hause ruft – dass wir den Mut haben mögen, umzukehren, Vergebung zu akzeptieren, und dem Pfad zu folgen, der zu unserem liebenden und barmherzigen Gott zurückführt. Dafür lege ich Zeugnis ab, und ich gebe Ihnen meinen Segen im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Das Gleichnis steht in Lukas 15 und ist eines von dreien (das verlorene Schaf, die verlorene Drachme und der verlorene Sohn), die veranschaulichen, was für einen Wert Verlorenes hat, und was für Feierlichkeiten stattfinden, wenn Verlorenes wiedergefunden wird.

  2. Lukas 19:10

  3. Lukas 15:11

  4. Dieser Sohn war wahrscheinlich noch jung. Er war unverheiratet, was auf seine Jugend hindeutet, aber nicht so jung, dass er sein Erbteil nicht einfordern und sein Zuhause verlassen konnte, sobald er es erlangt hatte.

  5. Nach dem Gesetz und der Tradition der Juden hatte der ältere von zwei Söhnen ein Anrecht auf zwei Drittel des Erbes, das der Vater hinterließ. Der jüngere Sohn hatte daher ein Anrecht auf ein Drittel. (Siehe Deuteronomium 21:17.)

  6. Siehe Lukas 15:13

  7. Siehe Lukas 15:14

  8. Siehe Lukas 15:16

  9. Aus Sicht der Juden galten Schweine als unrein (siehe Deuteronomium 14:8) und abstoßend. Ein praktizierender Jude hätte niemals Schweine gehalten, was darauf hindeutet, dass der Aufseher Heide war. Es könnte auch ein Hinweis darauf sein, wie weit der junge Sohn gereist war, um sich von praktizierenden Juden abzusondern.

  10. Elder Neal A. Maxwell hat gesagt: „Natürlich ist es besser, wenn wir uns ‚um des Wortes willen‘ demütigen, statt durch die Umstände dazu gezwungen zu werden, doch mag auch das genügen! (Siehe Alma 32:13,14.) Eine Hungersnot kann geistigen Hunger bewirken.“ („Das Ziehen und Zerren der Welt“, Liahona, Januar 2001.)

  11. Siehe Lukas 15:17

  12. Siehe Lukas 15:20

  13. Siehe Lukas 15:18,19,21

  14. Siehe Lukas 15:22-24

  15. Wir wissen ja, dass der jüngere Sohn bereits sein Erbteil erhalten hatte. Für den älteren bedeutete dies, dass ihm alles Übrige gehörte. Dem jüngeren Sohn etwas zu geben, hieß, es dem Sohn, der geblieben war, wegzunehmen.

  16. Siehe Lukas 15:29

  17. Siehe Lukas 15:31,32

  18. Jeffrey R. Holland, „Die Arbeiter im Weinberg“, Liahona, Mai 2012, Seite 33

  19. Was einem gegeben wird, schmälert nicht im Geringsten das Geburtsrecht anderer. Der Erretter hat diese Lehre im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg in Matthäus 20:1-16 aufgezeigt.

  20. Siehe Alma 34:31

  21. 2 Nephi 31:19,20

  22. 1 Petrus 1:8

  23. Siehe Psalm 28:7