Generalkonferenz
Brüder und Schwestern in Christus
Herbst-Generalkonferenz 2023


Brüder und Schwestern in Christus

Mögen wir uns vermehrt der geistigen Verwandtschaft erfreuen, die zwischen uns besteht, und die unterschiedlichen Eigenschaften und Gaben, die ein jeder besitzt, wertschätzen

Meine lieben Freunde, wir haben heute wundervolle Konferenzversammlungen genossen. Die aufbauenden Botschaften unserer Führer haben uns alle den Geist des Herrn und seine Liebe spüren lassen. Es ist mir eine Freude, mich heute Abend als Schlussredner an Sie zu wenden. Ich bete dafür, dass der Geist des Herrn weiterhin bei uns sei, während wir uns als wahre Brüder und Schwestern in Christus gemeinsam freuen.

Unser lieber Prophet, Russell M. Nelson, hat verkündet: „[Ich rufe] unsere Mitglieder überall auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und Einstellungen oder Verhaltensweisen aufzugeben, die auf Vorurteilen beruhen. Ich bitte Sie inständig, sich für Achtung vor allen Kindern Gottes einzusetzen.“1 In einer globalen und stetig wachsenden Kirche ist es unerlässlich, dass wir dieser Aufforderung unseres Propheten nachkommen, um in jedem Land der Welt das Reich des Erretters aufbauen zu können.

Das Evangelium Jesu Christi lehrt uns, dass wir alle Geistsöhne und Geisttöchter himmlischer Eltern sind, die uns wahrhaftig lieben,2 und dass wir als Familie in der Gegenwart Gottes gelebt haben, ehe wir auf Erden geboren wurden. Das Evangelium lehrt uns zudem, dass wir alle als Bild und Abbild Gottes erschaffen wurden3 und folglich vor ihm gleich sind,4 hat er doch „aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen“5. Wir tragen daher alle ein göttliches Wesen in uns, ein göttliches Erbe und Potenzial, denn es ist ja „ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in [uns allen] ist“6.

Als Jünger Christi sind wir aufgefordert, unseren Glauben an diese Verbundenheit und unsere Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern im Geist dadurch zu vertiefen, dass wir ungeachtet aller Unterschiede unsere Herzen aufrichtig in Einigkeit und Liebe miteinander verbinden, denn dadurch sind wir besser imstande, die Achtung vor der Würde aller Söhne und Töchter Gottes zu fördern.7

Entspricht das nicht exakt den Lebensumständen, die fast zweihundert Jahre lang nach dem Wirken Christi unter den Nephiten geherrscht haben?

„Und gewiss konnte es kein glücklicheres Volk unter allem Volk geben, was von der Hand Gottes erschaffen worden war.

Es gab … weder Lamaniten noch sonst irgendwelche -iten; sondern alle waren eins, die Kinder Christi und Erben des Reiches Gottes.

Und wie gesegnet waren sie!“8

Präsident Russell M. Nelson hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir für die Achtung und Würde unserer Mitmenschen eintreten müssen: „Unser aller Schöpfer erwartet von uns, jede von Vorurteilen geprägte Haltung gegenüber einer Gruppe von Kindern Gottes samt und sonders abzulegen. Jeder unter uns, der einer anderen Ethnie gegenüber Vorurteile hegt, muss umkehren! … Es ziemt sich für jeden Einzelnen von uns, für den Erhalt jener Würde und Achtung, die jedem Sohn und jeder Tochter Gottes zustehen, in unserem Wirkungskreis alles zu tun, was in unserer Macht steht.“9 Menschenwürde setzt in der Tat voraus, dass wir unsere Unterschiede respektieren.10

In Anbetracht des heiligen Bandes, das uns als seine Kinder mit Gott vereint, stellt diese prophetische Weisung Präsident Nelsons zweifellos einen grundlegenden Schritt dahingehend dar, dass wir unter uns Brücken des Verständnisses bauen, statt Mauern des Vorurteils und der Spaltung zu errichten.11 Allerdings weist Paulus schon die Epheser auf die Einsicht hin, dass wir uns, um dies zu erreichen, als Einzelne ebenso wie als Gemeinschaft bemühen müssen, einander demütig, friedfertig und geduldig zu begegnen.12

Es gibt da die Geschichte von einem jüdischen Rabbi, der mit zwei Freunden den Sonnenaufgang genoss. Er fragte die beiden: „Woran erkennt man, dass die Nacht vorbei ist und ein neuer Tag angebrochen ist?“

Einer der Angesprochenen erwiderte: „Wenn man gen Osten schauen und ein Schaf von einer Ziege unterscheiden kann.“

Der andere entgegnete: „Wenn man in die Ferne blicken und einen Ölbaum von einem Feigenbaum unterscheiden kann.“

Sodann stellten die beiden dem weisen Rabbi ebenfalls diese Frage. Nach einer langen Pause antwortete der: „Wenn man gen Osten schauen, das Gesicht einer Frau oder eines Mannes erblicken und sagen kann: ‚Sie ist meine Schwester, er ist mein Bruder.‘“13

Meine lieben Freunde, ich kann Ihnen versichern, dass das Licht des neuen Tages für uns heller strahlt, wenn wir unsere Mitmenschen mit Achtung und Würde behandeln – wie wahre Brüder und Schwestern in Christus.

Im Laufe seines irdischen Wirkens lebte Jesus diesen Grundsatz beispielhaft vor, zog er doch umher und tat jedermann Gutes und bat alle, zu ihm zu kommen und an seiner Güte teilzuhaben – ganz ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung oder kultureller Merkmale.14 Er diente, er heilte und achtete aufmerksam auf die Bedürfnisse aller – ganz besonders derer, die zur damaligen Zeit als andersartig angesehen und herabgesetzt oder ausgegrenzt wurden. Er wies niemanden ab, sondern behandelte alle gerecht und liebevoll, denn er sah sie als seine Brüder und Schwestern an – als Söhne und Töchter desselben Vaters.15

Bezeichnend ist da etwa die Begebenheit, die sich auf dem Weg nach Galiläa zutrug, als der Erretter absichtlich den Weg durch Samarien wählte.16 Jesus setzte sich beim Jakobsbrunnen nieder, um dort ein wenig auszuruhen. Als er dort saß, kam eine Samariterin, um ihren Krug mit Wasser zu füllen. In seiner Allwissenheit sprach Jesus sie an und bat: „Gib mir zu trinken!“17

Die Frau war verblüfft, dass ein Jude eine Samariterin um Hilfe bat, und drückte dieses Erstaunen auch aus: „Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern.“18

Jesus hingegen blieb unbeeindruckt von der schon lange bestehenden Feindseligkeit zwischen Samaritern und Juden. Liebevoll diente er der Frau geistlich und machte ihr begreiflich, wer er tatsächlich war, nämlich der Messias, der ihr alles verkünden könne und dessen Kommen sie ja bereits erwartete.19 Dieses freundliche Wirken veranlasste die Frau, in die Stadt zu laufen, den Leuten dort zu erzählen, was vorgefallen war, und zu fragen: „Ist er vielleicht der Christus?“20

Ich empfinde tiefes Mitgefühl mit denen, die von gefühl- oder gedankenlosen Menschen schlecht behandelt, verlacht oder verfolgt werden, denn ich habe im Laufe meines Lebens aus erster Hand den Schmerz miterlebt, den gute Menschen empfinden, wenn sie falsch beurteilt oder abgelehnt werden, weil sie eben anders reden, anders aussehen oder anders leben. Es tut mir wahrlich im Herzen weh um derentwillen, deren Sinn verfinstert bleibt, deren Sicht eingeengt ist und deren Herz hart bleibt, weil sie von der Minderwertigkeit derer überzeugt sind, die anders sind als sie. Ihr eingeschränkter Blick auf andere beraubt sie in der Tat der Fähigkeit, im anderen ein Kind Gottes zu erkennen.

Wie von den Propheten bereits vorhergesagt, leben wir heute in den schweren Zeiten vor dem Zweiten Kommen des Erretters.21 Die Welt wird durch heftige Spaltungen polarisiert, die durch ethnische, politische und sozioökonomische Bruchlinien noch verstärkt werden. Solche Spaltungen wirken sich letztlich oftmals auf unser Denken und Handeln im Umgang mit unseren Mitmenschen aus. Infolgedessen ist es nicht weiter ungewöhnlich, dass Gedankenwelt, Handlungsweise und Sprache eines anderen Kulturkreises, eines Volkes oder einer Ethnie als minderwertig abgetan werden und man sich vorgefasster, falscher und oftmals sarkastischer Vorstellungen bedient, die in einer Einstellung münden, die durch Verachtung, Gleichgültigkeit, Missachtung und eben auch Vorurteile gekennzeichnet ist. Solch eine Haltung wurzelt in Stolz, Überheblichkeit, Neid oder Eifersucht – alles Merkmale eines fleischlich gesinnten Wesens,22 die christlichen Eigenschaften genau entgegengesetzt sind. Ein solches Verhalten passt nicht zu jemandem, der ein wahrer Jünger Christi werden will.23 In der Gemeinschaft der Heiligen, liebe Brüder und Schwestern, gibt es jedenfalls keinen Raum für Gedanken und Handlungen, die auf Vorurteilen beruhen.

Als Söhne und Töchter des Bundes können wir dazu beitragen, solches Verhalten dadurch auszumerzen, dass wir die offensichtlichen Unterschiede zwischen uns mit den Augen des Erretters sehen24 – und zwar auf Grundlage dessen, was wir alle gemeinsam haben: unsere göttliche Identität und Verbundenheit. Wir können uns zudem bemühen, uns in den Träumen, Hoffnungen, Sorgen und Schmerzen unseres Nächsten widergespiegelt zu sehen. Als Kinder Gottes sind wir doch alle Mitreisende und sind ebenbürtig, was unseren unvollkommenen Stand und unsere Fähigkeit anbelangt, uns weiterzuentwickeln. Wir sind aufgefordert, unseren Weg Seite an Seite zu gehen – in Frieden miteinander, das Herz erfüllt von Liebe zu Gott und zu allen Menschen oder, wie Abraham Lincoln sagte, „mit Böswilligkeit gegen niemanden und mit Nächstenliebe für alle“25.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, inwiefern der Grundsatz der Achtung vor der Würde und Gleichwertigkeit eines jeden Menschen sich an der schlichten Kleidung zeigt, die wir im Haus des Herrn tragen? Vereint in dem Bestreben und erfüllt von dem Wunsch, in Gottes heiliger Gegenwart rein und heilig zu sein, betreten wir den Tempel. In Weiß gekleidet, werden wir alle vom Herrn selbst als seine geliebten Kinder willkommen geheißen – als Männer und Frauen Gottes, als Abkömmlinge Christi.26 Wir dürfen die gleichen heiligen Handlungen vollziehen, schließen die gleichen Bündnisse, verpflichten uns einer edleren, heiligeren Lebensweise und erhalten die gleichen ewigen Verheißungen. In der Absicht vereint, sehen wir einander mit neuen Augen, und in unserem Einssein freuen wir uns an unseren Unterschieden als Kinder Gottes.

Unlängst war ich dabei, als wir beim Tag der offenen Tür Würdenträger und Regierungsvertreter durch den Brasilia-Tempel in Brasilien führten. Ich hielt mich mit dem brasilianischen Vizepräsidenten kurz im Umkleideraum auf und wir unterhielten uns über die weiße Kleidung, die im Tempel jeder trägt. Ich erklärte ihm, die Verwendung weißer Kleidung stehe dafür, dass wir vor Gott alle gleich sind und dass unsere Identität im Tempel nicht Vizepräsident eines Landes oder Führer der Kirche ist, sondern unsere ewige Identität als Sohn unseres liebevollen Vaters im Himmel.

Bild
Die Iguazú-Wasserfälle

Der Fluss Iguazú durchfließt den südlichen Teil Brasiliens und ergießt sich dann über ein Plateau, wodurch ein weitverzweigtes System an Wasserfällen entsteht, das weltweit unter dem Namen Iguazú-Fälle bekannt ist und eine der schönsten und eindrucksvollsten Schöpfungen Gottes auf der Erde darstellt. Es gilt als eines der sieben Weltwunder. Eine ungeheure Wassermenge ergießt sich in einen einzigen Fluss und teilt sich dann in verschiedene Wasserläufe, sodass hunderte von einzigartigen Wasserfällen entstehen. Bildlich gesprochen, spiegelt sich in diesem weitverzweigten System von Wasserfällen die Familie Gottes auf Erden wider, denn wir alle haben ja denselben geistigen Ursprung und bestehen aus den gleichen Stoffen, wie sie sich aus unserer göttlichen Herkunft und Verwandtschaft ergeben. Jeder von uns fließt jedoch durch unterschiedliche Kulturen, Ethnien und Staatsangehörigkeiten, woraus sich unterschiedliche Ansichten, Lebenserfahrungen und Gefühle ergeben. Dessen ungeachtet gehen wir als Kinder Gottes und Brüder und Schwestern in Christus voran, ohne dabei unsere göttliche Verbundenheit zu verlieren, was aus uns ein einzigartiges Volk und eine liebevolle Gemeinschaft macht.27

Liebe Brüder und Schwestern, mögen wir Herz und Sinn an dem Wissen und dem Zeugnis ausrichten, dass wir vor Gott alle gleich sind und dass wir alle vollständig mit demselben ewigen Potenzial und Erbe ausgestattet sind. Mögen wir uns vermehrt der geistigen Verwandtschaft erfreuen, die zwischen uns besteht, und die unterschiedlichen Eigenschaften und Gaben, die ein jeder besitzt, wertschätzen. Dann, so verheiße ich Ihnen, wird jeder seines eigenen Weges dahinfließen, wie das Wasser der Iguazú-Fälle, ohne dabei allerdings jene göttliche Verbundenheit einzubüßen, die uns als Volk seines besonderen Eigentums, als „Kinder Christi und Erben des Reiches Gottes“28 auszeichnet.

Ich bezeuge Ihnen: Wenn wir auf diese Art durchs Erdenleben dahinfließen, bricht ein neuer Tag mit neuem Licht an, das uns das Leben erhellt und wundervolle Möglichkeiten erleuchtet, wie wir die Diversität, die Gott unter seinen Kindern geschaffen hat, mehr wertschätzen und vermehrt durch sie gesegnet werden.29 Wir werden dann gewiss ein Werkzeug in seinen Händen, um uns für Achtung und Würde unter all seinen Söhnen und Töchtern einzusetzen. Gott lebt. Jesus ist der Erretter der Welt. Präsident Nelson ist für unsere Zeit der Prophet Gottes. Ich gebe für diese Wahrheiten Zeugnis im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.